Rennradfahren ist ein Sport für harte Menschen, so jedenfalls die oft und gerne verbreitete Botschaft. Ohne brutale Trainingseinheiten und Askese ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass du jemals mit erhobenen Armen eine Ziellinie passieren wirst. Dementsprechend gibt sich die gesamte Sprache rund um Rennräder unerbittlich. Leidend gehst du an deine Grenzen und ringst dir bestenfalls am nächsten Tag ein grimmiges Lächeln ab, wenn du deine Trainingsdaten analysierst. Schmerzen sind Teil des Prozesses. Das Wort „Komfort“ wird höchstens verschämt in Zusammenhang mit sogenannten „Marathonrennrädern“ benutzt. Das sind, wenn man ehrlich ist, tatsächlich einfach nur Rennräder für Leute, die nicht 25 Stunden in der Woche trainieren.
Es ist immerhin ein Fortschritt, dass es diese Fahrräder gibt. Zusammen mit der immer weiteren Verbreitung von Gravelbikes stehen die Chancen im Jahr 2021 tatsächlich ziemlich gut, dass du unabhängig von Fitnesslevel und Flexibilität ein zu dir und deinen Touren passendes Fahrrad findest. Aber wie steht es mit der Bekleidung? Gerade Frauenkollektionen wurden lange Zeit eher stiefmütterlich behandelt. Als Beispiel mag hier eine Anekdote von Phil Burt dienen, einem der bekanntesten Bikefitter und Physiotherapeuten Großbritanniens. Er trat vor einigen Jahren seinen Job bei der britischen Nationalmannschaft an, der mit Olympiamedaillen meistdekorierten Mannschaft der letzten Jahrzehnte. Dort stellte er fest, dass fast alle weiblichen Athletinnen Sitzbeschwerden hatten. Ein Grund dafür war eine (inzwischen auch auf sein Betreiben hin gelockerte) UCI-Regel, die eine maximale Sattelneigung vorgab. Der zentrale Faktor war aber das fehlende Angebot an für Frauen optimierte Kleidung, vor allem von passenden Hosen. Es wurde schlicht und ergreifend erwartet, dass Frauen Männerkleidung tragen. Für manche funktioniert das auch ganz wunderbar – für die meisten aber eben nicht. Und hier schlägt die Stunde von frauenspezifischer Produktentwicklung, denn einer Männershorts pinke Bündchen zu verpassen, reicht eben noch nicht. Phil Burt stellt auf der Basis seiner Arbeit mit Athletinnen auf höchstem Level fest: „Es ist nicht verweichlicht, über Komfort nachzudenken.“ Im Gegenteil: Wer gut sitzt, kann fester in die Pedale treten.
Träger oder keine?
Klarer Fall: Wenn du sportliche Höchstleistungen bringen möchtest, dann bleibt die Trägerhose mit ihrem festen Sitz das Nonplusultra. Sie hält das Polster fest an Ort und Stelle, als es eine Bundhose könnte. Das ist nützlich, wenn du öfter mal aus dem Sattel gehst oder die bald von der UCI verbotenen, besonders aerodynamischen Sitzpositionen einnimmst.
Leider bringen die Träger für Frauen besondere Herausforderungen mit sich. Die fangen damit an, dass sich Hosenträger und Brüste nicht besonders gut vertragen. Dafür gibt es inzwischen eine Menge Lösungen, zum Beispiel besonders weit außen laufende Träger bei GORE. Ein anderer Weg ist ein zwischen den Brüsten herlaufender Mono-Bib-Träger mit Schnalle bei manchen Hosen in der Kollektion von ASSOS. Was der kann und wo seine Grenzen liegen, fasst Peter Hammerschmidt, Produktmanager bei ASSOS, zusammen: „Den ypsilonförmigen Mono-Bib-Träger, der mit einem Magnetverschluss zwischen den Brüsten herläuft, haben wir schon lange in der Kollektion. Der vorne liegende Verschluss ist auch bei einem Stopp gut zugänglich und lässt sich schnell und leicht öffnen. Die perfekte Trägerlösung für Frauenhosen, die festen Halt, angenehme Passform und gleichzeitig eine bequeme Lösung für die Pinkelpause bietet, ist aus unserer Sicht weiterhin eine Herausforderung. Wir bleiben auf jeden Fall an dem Thema dran mit unseren neuen Produktentwicklungen.“
Der Gang zur Toilette mit Trägerhose ist schon für Männer oft nicht ganz einfach, für Frauen wird es noch einmal deutlich schwieriger. Auch hier gibt es aber mittlerweile Lösungen wie zum Beispiel den DropSeat bei Endura. Dort sitzt ein Reißverschluss über dem unteren Rücken, der es erlaubt, die Hose herunterzuklappen. Innovative Ansätze wie diese sorgen dafür, dass mittlerweile immer mehr Frauen zu Trägerhosen greifen. Der Sitzkomfort auf dem Rad hängt aber vor allem von anderen Faktoren ab.
Mann oder Frau, Zeitfahren oder Graveltour?
In dem Moment, wo Frauenradhosen als eigenständiges Produkt und nicht nur als Variante eines von Männern für Männer designtes Produkt entwickelt wird, ist schon einiges gewonnen. Neben der Anatomie spielen aber auch noch eine Menge anderer Faktoren mit. Hannah Reynolds, die für Endura Hosen testet, bringt es auf den Punkt: „Es ist nicht einfach nur die Frage „Mann oder Frau?“, es geht um alle Faktoren, die deinen Komfort beeinflussen. Auf einer Tagestour bist du vielleicht eher entspannt, sitzt eher aufrecht und dein Gewicht liegt vor allem auf den Sitzknochen am hinteren Teil des Sattels. Du spürst dann keinen Druck im vorderen Bereich des Sattels. Beim Zeitfahren wiederum verlagerst du dein Gewicht viel weiter nach vorne und spürst dann auch weiter vorne Druck.“ Jede Firma, die einfach nur ein Polster für „die Frau“ designen möchte, steht vor einem Problem. Frauen unterscheiden sich in ihren Körpermaßen sehr viel stärker voneinander als Männer es tun. Trotzdem gibt es bestimmte Eigenschaften, auf die sich wahrscheinlich alle Firmen einigen könnten, die spezifische Frauenpolster herstellen. Die Polster müssen vorne nicht so weit hochgezogen werden und sollten hinten dafür etwas breiter sein, um den tendenziell etwas breiteren Sitzknochenabstand zu berücksichtigen. Im mittleren Teil schließlich müssen Frauenpolster das Problem lösen, dass der Sattel direkt auf das im Vergleich zu Männern etwas weiter vorne und tiefer liegende Schambein drückt.
Optionen machen glücklich
Wie genau kann man das jetzt alles unter einen Hut bekommen? Bei ASSOS sucht man den Weg zwischen akribischen Druckstellenanalysen der Polster und intensivem Feedback einer Gruppe fester Testerinnen. Ohne das geht es nicht, denn die schönsten Laborergebnisse helfen nicht viel, wenn ein Polster nicht mit einem Schnitt harmoniert. Zentrales Element ist auch bei den Frauenhosen neben einem speziellen Polster die goldenGate-Technologie, ein zwischen den Beinen nicht festgenähtes Polster, das so die Flexibilität hat, sich deinem Körper perfekt anzupassen und Reibung vermeidet.
Enduras Frauenhosen setzen hingegen auf eine andere Philosophie und passen die Breite des Polsters in drei Größen dem benutzten Sattel an. Du solltest sowieso einen breiteren Sattel fahren, je größer dein Sitzknochenabstand ist – dann benötigst du auch ein breiteres Polster. Eventuell stellt die Firma, die noch nie davor zurückgeschreckt hat, ganz eigene Wege zu gehen, ja in den nächsten Wochen auch ein neues Produkt für Frauen vor – ein weiterer Schritt in ihrem Bestreben, Radbekleidung besser zu machen. Natürlich werden auch mit neuen Produkten nicht alle Menschen glücklich werden – dazu sind wir alle, egal ob Frauen oder Männer, viel zu verschieden. Trotzdem sollten wir begrüßen, dass auch sportliche Frauen mittlerweile eine viel größere Auswahl an auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenen Produkten haben als noch vor fünf Jahren, wie Hannah Reynolds zusammenfasst: „Wenn wir so mehr Leuten für eine längere Zeit mehr Komfort im Sattel ermöglichen können, ist das unterm Strich positiv. Das gilt ganz besonders für Frauen, die teilweise noch nie die Frage „Sitzt du wirklich bequem auf deinem Rad?“ gestellt bekommen haben.“
Die Fahrradindustrie hat angefangen, Frauen und ihre Bedürfnisse ernst zu nehmen, indem sie sie in die Produktentwicklung miteinbezieht. „Komfort“ ist für kein Geschlecht ein Schimpfwort mehr, auch wenn es um Rennen geht. Das beides gibt zwar noch keine Garantie darauf, dass jede Sportlerin die für sie perfekte Hose findet, aber die Chancen steigen dadurch enorm. Ein Anlass, auf den man an diesem Weltfrauentag anstoßen kann!