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Ein Radjournal von Brügelmann

Maurice Brocco 400 Rannradfahrer Halle

Maurice Brocco 400 – Schöner Wahnsinn Langstrecke

Maurice Brocco 400 – Schöner Wahnsinn Langstrecke

Unser Autor nimmt uns mit auf 400 Kilometer in 24 Stunden. Das Maurice Brocco 400 ist ein knackiger Ritt zu Ehren des ersten Domestiken, der 1911 eine Etappe der Tour gewann.

Brügelmann Blog 1. August 2019 10 min.

Irgendwie ist es so, dass man immer mehr will: Mehr Spaß, mehr Fahrräder, mehr Kilometer am Stück. Hat man erst einmal die 100 Kilometer geknackt, schielt ein Auge schon auf die 200. Genau so war es auch bei mir. Irgendwann wird es aber auch einfach absurd. Im letzten Jahr hatte ich mit über 300 Kilometer am Stück eine wirklich wahnsinnige Erfahrung gehabt. Aber ich wollte eben mehr. Deswegen habe ich mich umgeschaut und die 400 gefunden. Die 400 waren einfach zu finden, sie stehen nämlich bereits im Namen des Events.

Ein 400 KM Selbstversuch

Maurice Brocco, so sagt es die Legende, war der erste Domestik. Er war aber auch einfach ein leidenschaftlicher Radfahrer. Beim Maurice Brocco 400 gibt es jedes Jahr einen Startplatz mehr, ausgehend vom einzigen Tour-Etappensieg des Franzosen im Jahr 1911. Ich konnte mir einen der begehrten Startplätze sichern und stand mit den 107 anderen Verrückten an einem Samstag um kurz nach zwölf Uhr mittags im Leipziger Süden an der Startlinie.

Maurice Brocco 400 Mützen
Kaum zu glauben, dass es nur 108 Teilnehmer waren. Alle Startplätze waren restlos ausverkauft und die Anmeldung dementsprechend gut besucht.

Erster Akt

Raus aus der Stadt ging es zur Sicherheit aller Beteiligten noch in der Gruppe. Ich bin es allerdings nicht gewöhnt, in einer Horde mit anderen zu fahren und war dementsprechend ziemlich angespannt. Hinzu kam die übermächtige Aufregung, welche mich vorher mindestens drei Nächte lang nicht schlafen ließ. Auf den ersten Kilometern kam es erwartungsgemäß zu verschiedenen Zwischenfällen. Jemand hat einen Platten, jemand anders verlor seine Trinkflasche, Autos hupten und stänkerten. Dass das „Rennen” (eigentlich ist es gar keins, aber letzter will trotzdem keiner sein) nun los ging, sah ich an einer minimalen Steigung, einer Brücke über Gleise. Plötzlich gab es nicht mehr nur eine Gruppe, sondern ganz vorn noch eine. Mein Plan war eigentlich von Anfang an so, dass ich bis zum ersten Checkpoint unbedingt in einer Gruppe bleiben wollte. Ich wollte außerdem die einzigen beiden Mitstreiter, die ich wirklich kannte, nicht verlieren.

Maurice Brocco 400 Rennradgruppe
Bloß nicht abreißen lassen! In dieser Gruppe zu bleiben, war ganz schön hart.

Es war verdammt schwer, diese beiden Vorhaben umzusetzen. Manchmal bogen Leute einfach ab, andere vor mir bremsten schlagartig, weil sie lieber denen und nicht den anderen folgen wollten. „Großes Chaos mitten auf der Kreuzung“, könnte die Überschrift für etwa ein Dutzend Vorfälle sein. Zum Glück jedes Mal ohne große Unfälle. Es gab eben uneinheitliche Routen und gemischte Gruppen. Ein weiteres Problem der ersten Kilometer bestand aus der Geschwindigkeit, welche sich immer in einem Bereich zwischen 32 und 38 km/h bewegte. Gespickt mit einigen Sprints nach Kurven oder an Hügeln kam ich schnell zu der Erkenntnis: Bis nach Weimar komm ich da noch mit, danach ist aber Schluss mit der Raserei. Auch mein Setup mit 35 mm breiten Gravel-Reifen war wohl, so ging mir plötzlich auf, nicht die beste Wahl. Fahrer um Fahrer verließ unsere Gruppe und so kamen wir tatsächlich als Dreier-Gespann zum ersten Checkpoint: Gerberstraße Weimar. Die Durchschnittsgeschwindigkeit von 31,8 hatten einige offensichtlich unterboten, denn viele waren schon da. Die ersten waren vor über einer Stunde schon weitergefahren.

Maurice Brocco 400 Checkpoint 2 Weimar
Beim ersten Checkpoint in Weimar waren alle noch mehr oder weniger zusammen.

Zweiter Akt

Nach zwei Flaschen Cola, Kartoffeleintopf und Haferbrei fühlte sich mein Bauch so wie meine Beine an: dicht und starr. Zu dritt stand dann der erste richtige Anstieg aus Weimar hinaus an. Relativ schnell wurde auch hier klar, dass ich an diesem Tag weder die Beine noch die richtigen Reifen dafür hatte. Ich ließ die beiden ziehen und hoffte ein wenig, dass sie oben auf mich warteten. Das war dann auch der Fall. Ich schleppte mich mit ihnen zum Kyffhäuser. Nach oben fuhr ich nach 200 Metern Anstieg dann allein. Es war eine absolute Tortur. Der Kopf schmerzte, die Knie taten weh. Ich sah niemanden vor mir und hinter mir war auch keiner. Rückblickend war es der absolute Tiefpunkt. Kurz vor dem Gipfel sah ich dann ein paar Tätowierte auf Rennrädern. Einige davon kannte ich von früher an diesem Tag, es war die schnelle Gruppe. Mit letzter Kraft oben angekommen war mir klar: So kann es nicht weitergehen. Innerhalb der ersten 15 Minuten trank ich zwei alkoholfreie Radler und aß ein wenig Brot. Außerdem beschloss ich, allein weiterzufahren.

Maurice Brocco 400 Checkpoint Kyffhäuser
Der absolute Tiefpunkt am höchsten Punkt. Am Checkpoint Kyffhäuser wusste ich nicht so richtig, wie es weitergehen soll.

Dritter Akt

Als ich mich wieder in den Sattel schwang, waren meine beiden Gefährten trotzdem noch bei mir. Kurz dahinter war die schnelle Gruppe und mir ging es mit sinkender Höhe und jeder einzelnen Kurve besser. Zu dritt fuhren wir eine Weile, ich versteckte mich, mal mehr mal weniger, hinter den anderen beiden. Irgendwann sahen wir vor uns wieder eine größere Gang. Schon wieder die gleichen? Zum Glück hatten die sich wie wir etwas verfahren und mussten eine kurze Offroad-Passage in Kauf nehmen. So konnten wir uns schnell rankämpfen. Die immer gleiche Bande, so erfuhr ich, war eine Gruppe aus Dresden, die sich alle mehr oder weniger kannten. Manche von ihnen fuhren das Maurice Brocco bereits zum vierten Mal. Irre. Kleine Radwege mit großem Gegenwind, ab und zu mal was trinken und mal eine getrocknete Feige. Das reichte aus, um meinen Magen bis zur absoluten Oberkante zu füllen. Das Tempo verschärfte sich immer mal wieder, vor allem nach spitzen Kurven und auch innerhalb heftiger Anstiege. Ich konnte aber immer mit letzter Kraft dranbleiben. Dann endlich das Straßenschild: Zorge 3 km. Es zog sich durch den Ort und dann endlich stand jemand mitten in der Dämmerung, mitten auf der Straße, mitten im Harz. Checkpoint drei wurde erreicht.

Vierter Akt

Die gute Nachricht: Es gab Chili sin Carne. Die schlechte Nachricht: Mein Magen war so voll und angespannt, dass ich nur eine Schüssel reinbekam. Diese musste ich über 20 Minuten häppchenweise einnehmen. Das Beste war der tiefschwarze Kaffee, der mir richtig guttat. Meine Dreiergang beschloss während des Essens, sich nun gänzlich der Crew aus Dresden anzuschließen. Als wir wieder auf den Rädern saßen, alle ihre Lampen beziehungsweise Scheinwerfer in Betrieb nahmen und losrollten, türmte sich vor uns der zweite Berg des Tages auf. Schon nach 400 Metern war ich abgeschlagen. Egal wie sehr ich ackerte, ich konnte nicht dranbleiben. Als sich mein Kompagnon zurückfallen ließ, um mich zu fragen, ob ich wirklich abreißen lassen will, konnte ich nur noch nicken. Dass ich irgendwann allein durch die Heide düsen würde, war mir von Anfang an klar. Dass es genau bei Einbruch der Nacht in einem mystischen Wald passieren sollte, war gleichermaßen schön und furchterweckend. Ich quälte mich langsam, aber eben in meinem Tempo, den Berg hinauf. Es war eine unglaubliche Stimmung, nachts allein im Harz.

Maurice Brocco 400 Rennradgruppe mit Beleuchtung im Wald
Nachts im Wald: Fahrradfahrer suchen den richtigen Weg. Das kam sehr oft vor.

Am Ende des Berges bog der Track ab und plötzlich sah ich vermehrt Fahrräder von links kommen. Erst dachte ich an eine Illusion, dann sah ich aber: Es war die Gang aus Dresden! Die hatten sich einmal richtig verfahren. Zu dem Zeitpunkt war es wohl das Beste, was mir passieren konnte. Ich klinkte mich wieder in die Gruppe ein. Was danach geschah, ist am besten mit einem Rausch zu beschreiben. Wir düsten als 14er-Gruppe durch den Harz. Durch Wälder, ruhende Dörfer, entlang entlegener Straßen, aber immer mit ordentlich Karacho. Manchmal fühlte ich mich, als ob ich in einem Zug sitzen würde. Beim wirklich allerletzten großen Anstieg drohte ich wieder abzufallen. Als dann irgendjemand von hinten anfing, mich nach oben zu schieben, brach mein emotionaler Damm und ich hatte ein paar Tränen in den Augen. Ein wahrlich göttlicher Augenblick, den ich da erlebte. Dieses Hochgefühl hielt an, bis wir zum vierten Checkpoint im Kloster in Ilsenburg kamen.

Maurice Brocco 400 Checkpoint nachts
Der absolute Höhepunkt: Checkpoint vier bot uns das Ende des Harzes, viel leckeres Essen und über 40 Minuten Pause.

Fünfter Akt

Die Versorgung dort war so überragend, dass wir erst nach 40 Minuten wieder loskamen. Smoothies, Cola, Kaffee, verschiedene Salate und Kuchen, aber am besten schmeckten die Kekse. Ein Kasten Sternburg fand ebenfalls ein paar Abnehmer. Dann machten wir uns auf, zur letzten großen Etappe vor der Zielgerade. Bis Halle waren es 110 Kilometer. Der anmutige und verblüffend schöne Harz endete plötzlich, es empfing uns die Tristesse des ländlichen Sachsen-Anhalt. Kaum noch Höhenmeter, wenige Kurven, sehr wenige Ortschaften, gefühlte und erlebte absolute Eintönigkeit. Fast fühlt es sich an wie auf der Rolle zu trainieren. An der Spitze fuhren abwechselnd fast immer die gleichen Fahrer. Aus Angst, die Gruppe würde durchziehen bis nach Halle, fuhr ich kurz neben einen meiner beiden Bekannten und fragte ob wir bei der nächsten Tanke mal auftanken wollen. Er war dagegen. Also gliederte ich mich wieder ein. Zu diesem Zeitpunkt war es in der Gruppe absolut still. Über Stunden redete niemand mehr auch nur noch ein einziges Wort.

Maurice Brocco 400 Rennradgruppe nachts an Tankstelle
Die geöffnete Tankstelle bei der Pause in Sichtweite. Nachts um drei Uhr die höchste Form der Selbstgeißelung.

Dann machte irgendwer die Ansage: Pinkelpause! Was für ein Glück. Kurioserweise hielten wir etwa 200 Meter hinter einer geöffneten Tankstelle. Mich wunderte aber eigentlich auch nichts mehr. Bis zur nächsten Pinkelpause gab es weder Zeit noch Raum, noch irgendetwas anderes außer Unterlenker, Kurbelumdrehungen, ab und zu mal ein Schluck Wasser. Bei der zweiten Pinkelpause vor Halle war es schon ein wenig hell und die Stimmung wie davor auch, ausgelassen. Jeder Luftausstoß aus den gereizten Mägen wurde zelebriert und gefeiert. Der Sonnenaufgang war leider weniger episch als ich gehofft hatte. Immerhin erreichten wir Stück für Stück Halle. Jetzt merkte ich aber vor allem auch die Leiden der anderen. Gelegentliches Stöhnen konnte ich eben so wahrnehmen, wie häufiges Ächzen. Ich war ein wenig zufrieden, dass ich nicht der einzige war, der auf dem Zahnfleisch fuhr. Durch das erwachende Halle zu fahren, war hingegen ziemlich cool. Die verwirrten Blicke der Passanten, die sich fragten, was 14 Fahrradfahrer an einem Sonntagmorgen um fünf Uhr in ihrer Stadt machten, das war episch. Hells-Angels-Feeling!

Sechster Akt

In Halle war der Checkpoint ebenfalls überragend bestückt. Viel Kuchen, Unmengen an Nudelsalat, verschiedene Getränke und richtig entspannte Atmosphäre. Es war wohl während der zweiten Flasche Cola, als ich mich entschloss die letzten 45 Kilometern, zurück nach Leipzig, allein zu fahren.

Maurice Brocco 400 Rannradfahrer Halle
Auch allein war es ziemlich genial durch das erwachende Halle zu fahren.

Ich wollte einfach mal Zeit haben, für mich, zum Durchatmen und überhaupt mal mein eigenes Tempo zu fahren. Tatsächlich fühlte sich das auch wirklich gut an. Ziemlich genau bis zu dem Zeitpunkt, als die Häuser um mich herum verschwanden und mich der starke Gegenwind erfasste. Aus den bisher 30 Kilometern pro Stunde wurden 20. Ich sah nur noch Felder und Wind. Aber das wollte ich ja auch so und irgendwie tat alles viel weniger weh, als ich erwartet hatte. Darum Kopf runter und durch! Mit Einfahrt in den Speckgürtel von Leipzig kam mir ein mich grüßender Radfahrer entgegen. Mein Freund Felix ist um halb sechs Uhr aufgestanden, um mich die letzten Kilometer zu begleiten. Die verliefen entlang des Elster-Kanals. Schön, aber windig. Dann irgendwann war es soweit. Wir hielten an der letzten Ampel vor dem Ziel. Als ich dann dort einrollte, wurde ich, so wie jeder andere auch, mit lautem Klatschen und Jubeln empfangen.

Maurice Brocco 400 Rennradfahrer allein auf Straße
Am Ende tat es nochmal richtig weh. Grund war der sich mir entgegenstellende Wind.

Epilog

Abgeschlagenheit, taube Knie und innere Zufriedenheit begleiteten mich über viele Tage noch. So hatte ich mir das nicht vorgestellt: In der Gruppe hart am Limit fahren. Ob es die richtige Entscheidung war, immer dran und drin zu bleiben, weiß ich bis heute nicht. Ein Fehler in dem Sinne war es aber sicher nicht. Anders wäre es eben anders gewesen. So war es in jedem Fall der pure Wahnsinn und das 17 Stunden lang. Wenn man hinterher Leuten davon erzählt, die nicht unbedingt im Fahrraduniversum leben, dann wird einem der pure Wahnsinn nur noch deutlicher. Ein Auge sieht den Wahnsinn – das andere schielt auf die 500.