Ein geflügeltes Wort behauptet, dass niemals so viel gelogen wird wie vor einer Wahl, im Krieg und nach der Jagd. Wer schon öfters mit anderen Leuten Fahrrad fahren war, kann dieser Aufzählung noch einen weiteren Punkt hinzufügen: vor der Tour. Hier sind die beliebtesten Lügen, die bei dir sämtliche Alarmglocken schrillen lassen sollten.
„Keine Angst, ich kenne den Weg.“
In jeder Gruppe, die halbwegs regelmäßig zusammen fährt, gibt es immer eine Person, die absolut unfähig zur Navigation ist. Rechts und links geht gerade noch so, bei Himmelsrichtungen hört es aber ganz schnell auf. Aus unbekanntem Grund hat die Gruppe dem Gequengel dieser Person nachgegeben, die unbedingt auch mal eine Strecke planen wollte, und jetzt steht ihr alle abfahrbereit am Treffpunkt. Nicht abfahrbereit: der einzige Navigationscomputer, der die Route aufgespielt hat. Dass im Vorfeld aus dem genauen Routenverlauf ein Staatsgeheimnis gemacht wurde, rächt sich jetzt. Nun müsst ihr euch auf das Gedächtnis von jemandem verlassen, der nicht einmal auf Anhieb den Weg zu seinem Arbeitsplatz findet, selbst wenn er im Homeoffice arbeitet. Anstatt wunderbare neue Straßen zu entdecken, liegt also eine stundenlange Erkundung der schönsten Sackgassen der Region vor dir. Die recht angespannte Stimmung wird auch nicht durch die Wutanfälle derjenigen mit brandneuen Carbonlaufrädern aufgelockert, wenn der Asphalt wieder mal einem Feldweg Platz macht.
„Ich habe Werkzeug dabei.“
Wenn du dich auf diese beruhigende Aussage verlässt und dein Multitool sowie deine Pumpe zu Hause lässt, bist du verlassen. Unterschiedliche Menschen haben sehr unterschiedliche Vorstellungen davon, was eine angemessene Werkzeugausstattung ist. Dazu kommt, dass heutzutage praktisch jedes Rad selbst für alltägliche Reparaturen Spezialwerkzeug benötigt. Willst du wirklich 50 Kilometer von zu Hause herausfinden, dass entgegen aller Ankündigungen niemand in der Gruppe Flickzeug dabei hat? Mitten in der Tour willst du sicher nicht von einem Rumpeln im Steuerlager daran erinnert werden, dass dein Vorbau mit Torx-Schrauben versehen ist. Für die hat natürlich niemand den passenden Schlüssel dabei. Jetzt stehst du vor der Wahl, mit losem Steuersatz weiter zu fahren oder ein Taxi zu rufen. Der Ärger wird auch nicht kleiner, wenn du dich an den Moment erinnerst, als du vor der Abfahrt dein Multitool wieder aus der Jerseytasche geholt und dich darüber gefreut hast, es heute nicht mitschleppen zu müssen.
„Heute machen wir echt gemütlich.“
Solltest du diesen Satz hören, dann sieh am besten zu, dass du noch schnell eine Handvoll Koffeingels organisieren kannst. Du wirst sie brauchen! Wie schmerzhaft es wird, hängt dabei an Details, die weit außerhalb deiner Kontrolle liegen. Für welches Segment steht der Wind günstig und wer ist am Morgen mit Ambitionen aufgewacht? Setzen deine Mitstreiter*innen nur kurze, kleine Nadelstiche am Ortsschild? Oder aber wird im belgischen Kreisel zur Frontalattacke auf ein flaches 10-Kilometer-Segment geblasen? Aber selbst, wenn die Gruppe nicht auf virtuelle Pokale und reale Sprints aus ist, bleibt „Gemütlichkeit“ ein sehr relativer Begriff. Der 85 Kilogramm schwere Rouleur fühlt sich bei Seitenwind Stärke 4 noch pudelwohl. Gleichzeitig kämpft die 55 Kilogramm schwere Triathletin an seinem Hinterrad verzweifelt darum, nicht quer über die Straße geblasen zu werden. Und Trainingsfahrten unter einem 30er Schnitt gehen sowieso gar nicht.
„Oben wird gewartet.“
Du wusstest von Anfang an, dass du die Sträflingskugel am Bein einer deutlich schnelleren Gruppe sein würdest. Nur ihre freundlichen Versicherungen, dass sie sowieso immer an jedem Anstieg aufeinander warten, hatte dich dazu bewogen, überhaupt mitzukommen. Tatsächlich ziehen alle anderen schon am ersten Anstieg, einer vergleichsweise flachen und kurzen Prüfung, schnell davon. Nach fünf Minuten, in denen du mehrfach mit deinem Maximalpuls geflirtet hast, siehst du sie an der Kuppe warten. Natürlich fahren sie exakt in dem Moment weiter, als du dich ihnen näherst. In Zukunft ist dir klar: Nur die Schnellsten dürfen Pause machen. Diejenigen, die die Pause wirklich nötig hätten, müssen durchziehen. Das fordert natürlich irgendwann seinen Tribut. Wenn irgendwie möglich, hab die Route auf deinem Navigationscomputer, um die Gruppe ziehen lassen zu können.
„Die Route ist quasi flach.“
Größter Argwohn ist immer dann geboten, wenn deine hartnäckigen Fragen nach der exakten Route im Vorfeld mit Allgemeinplätzen wie diesem oder „Zum Kaffee bist du garantiert wieder zu Hause.“ beantwortet werden. Dann stehen die Chancen nämlich ziemlich gut, dass du dich auf ein Himmelfahrtskommando einlässt. Weil du gutgläubig bist, fährst du natürlich trotzdem mit los und kriegst prompt die Quittung präsentiert. Nach 90 Kilometern und knapp 2000 Höhenmetern stehst du mit zitternden Beinen ohne Telefonempfang in einem namenlosen Tal. Wie du es nach Hause schaffen sollst, ist völlig unklar.
Bedeutet das jetzt, dass du am besten ausschließlich alleine fahren solltest? Keinesfalls! Schließlich entstehen gerade auf den Touren, wo nicht alles glattläuft, die besten Geschichten. Und wenn deine Beine brennen, während du versuchst, dich wieder an das letzte Hinterrad der Gruppe heranzuarbeiten, kannst du dich immer noch mit der uralten Weisheit trösten: You don’t get fit if you don’t get dropped.