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Ein Radjournal von Brügelmann

Kopfsteinpflaster Rennrad Brandenburg

Kopfsteinpflaster – Kasseien – Pavé

Kopfsteinpflaster – Kasseien – Pavé

Der ultimative Kick auf dem Rennrad

Brügelmann Blog 22. Februar 2022 10 min.

Typisches Frühlingswetter: Es ist windig, kalt und regnet zeitweise. Du hast vor ein paar Tagen schon einen Versuch gestartet, dich nach draußen zu wagen und es prompt bitter bereut. Der nächste Versuch hat gerade erst begonnen, zum Glück ist es halbwegs trocken. Vor dir liegt allerdings etwas, das nur mit bestem Willen als Straße zu bezeichnen ist. Statt Flüsterasphalt besteht die Straßendecke aus handtellergroßen Steinen mit Fugen, in denen komplette Rennradreifen verschwinden können. Eine Horrorvorstellung? Im Gegenteil: Das Highlight deiner Runde!

Die Frühjahrsklassiker beweisen das jedes Jahr, denn sie warten im Gegensatz zu den oft eher schnarchigen Großen Rundfahrten mit spektakulärer Action und unvorhersehbarem Rennverlauf auf. Und zwar nicht obwohl, sondern gerade weil das Wetter mies und die Straßen noch mieser sind. In diesen Rennen zählen Spontaneität und explosive Antritte anstelle von auf das Watt genau reguliertem Klettertempo, heroische Ausreißversuche statt Ausscheidungsfahren von vorne am letzten Anstieg.

Kopfsteinpflaster Rennrad Brandenburg
Zwei Wege boten sich mir dar und ich nahm den, der mit Kopfsteinpflaster ausgelegt war

Was für das Profi-Peloton gilt, das gilt erst recht für uns Normalsterbliche. Richtig angegangen sind Kopfsteinpflasterabschnitte das Salz in der Suppe jeder Tour, weil sie Abwechslung bringen und viele Routen erst möglich machen. Ganz nebenbei funktionieren sie auch als großer Gleichmacher, denn zur KOM-Attacke auf 500 Meter Rüttelpiste kannst du auch ohne Sprintzug, übertriebenes Talent und 20 Trainingsstunden pro Woche blasen. Hier zählen Einstellung und Fahrstil mehr als gewichtsoptimierte Flaschenhalter, Zeitfahrräder verbieten sich ohnehin von selbst.

Die großen Kopfsteinpflaster-Sportives der Flandernrundfahrt und von Paris-Roubaix (die dieses Jahr wieder an ihren angestammten Terminen im Frühling stattfinden sollen), sind sowieso Pflichtprogramm, um wirklich würdigen zu können, was das Profi-Peloton dort abliefert. Wenn du verrückt genug warst, dich dort anzumelden, oder nach den tiefer hängenden KOM-Früchten auf dem Kopfsteinpflastersegment vor Ort greifen möchtest, dann findest du im Folgenden eine Menge Infos.

Das Material

Machen wir uns nichts vor: Das ist kein Job für dein Sonntagsrad. Du musst dich bei dem Gedanken wohlfühlen, dass dein Rad vielleicht ein paar Kratzer abbekommt. Wo gehobelt wird, fallen auch mal Späne und selbst bei akribischer Vorbereitung kann es sein, dass Felge und Pflasterstein ungewollte Bekanntschaft machen. Trotzdem gibt es keinen Grund zu übertriebener Sorge, denn mit modernem Material bist du auf Kopfsteinpflaster besser gerüstet denn je. Deine schicken Carbonlaufräder sind also kein Grund, Umwege zu machen.

Versuchung Gravelbike

Natürlich lockt die Option, sich ein Gravelbike zu schnappen und mit 45 Millimeter breiten Pneus (oder gar noch breiterem 650b-Gummi) und 2,5 Bar das Kopfsteinpflaster glattzubügeln. Wenn es dir nur darum geht, im Velodrom anzukommen, dann gönn dir mehr Reifen und damit mehr Komfort. Einfach wird es deswegen nicht, und schneller bist du auf keinen Fall.

Zipp 303 S Rennrad Laufrad
Carbon ist kein Grund, Kopfsteinpflaster zu meiden. Im Gegenteil: Moderne Carbonlaufräder wie die Zipp 303 S sind wie gemacht fürs Grobe.

Wenn es dir um Geschwindigkeit geht, dann orientiere dich an den Rädern und Reifen, die auch im Rennen zum Einsatz kommen. Für gemäßigtes Terrain wie in Flandern sind das Reifen um die 28 Millimeter, für den ganz groben Untergrund bei Paris-Roubaix kannst du da noch mal zwei bis vier Millimeter draufpacken. Schneller als mit Gravelreifen bist du so auf jeden Fall, denn das Kopfsteinpflaster macht immer nur einen Bruchteil der Route aus.

Komfort sticht alles

Je mehr Puffer du zwischen dich und die einzelnen Steine bringen kannst, desto besser. Deine 23 Millimeter breiten Asphaltschneider sind hier also nutzlos und auch das bocksteife Wettkampfrad ist nicht unbedingt das passende Werkzeug. Natürlich funktioniert das irgendwie (Mathew Hayman hat 2016 in Roubaix schließlich auch auf einem stinknormalen Aerorenner ohne größere Modifikationen gewonnen), aber mehr Spaß hast du mit einer aufrechteren Sitzposition und breiteren Reifen, sprich einem Endurance-Renner. Doppelt gewickeltes Lenkerband wird gerne empfohlen, aber das solltest du unbedingt vorher ausprobieren. Der dadurch wachsende Lenkerumfang kann für kleinere Hände nicht mehr bequem zu greifen sein. Handschuhe sind aber definitiv keine schlechte Idee, um Blasen vorzubeugen.

Schwalbe One Tubeless Easy
Wenn du es mit dem Pavé ernst meinst, kommst du um eine eingehende Beschäftigung mit Dichtmilch nicht herum

Stabil den Durchschlag verhindern

Besonderes Augenmerk gilt den Laufrädern bzw. Reifen. Dein leichter Berglaufradsatz ist hier fehl am Platz, ein paar hundert Gramm Mehrgewicht trüben die Laune weniger als ein Speichenbruch. Robuste Allrounder mit einer Speichenzahl deutlich nördlich von 20 sind zu empfehlen, breitere Maulweiten ab 20 Millimetern bringen mehr Komfort. Moderne Felgen aus Carbon können Kopfsteinpflaster gut ab, aber Aluminium ist im Falle eines besonders brutalen Durchschlags günstiger zu ersetzen.

Die Reifenbreite hatten wir oben schon abgehakt, aber auch zur Füllung der Reifen sollten wir noch ein paar Worte verlieren. An tubeless führt kein Weg vorbei(hier gibts eine Anleitung, wie du auf tubeless umrüstest), weil Snakebites damit so gut wie passé sind und du deswegen niedrigeren Druck und mehr Traktion genießen kannst. Hast du partout keine Lust auf Dichtmilch, dann überleg wenigstens, ob Latexschläuche noch im Budget sind. Sie sind unempfindlicher gegenüber Durchschlägen als Butylschläuche und rollen geschmeidiger über die einzelnen Steine.

Camelbak Podium Trinkflaschen Rennrad
Diese Kombination hält jedes Kopfsteinpflaster aus: Camelbak Podium Flaschen und Lezyne Flow Cage Flaschenhalter

Lastensicherung

Wenn du einen der größeren Sportives mit Kopfsteinpflasterabschnitten mitfährst, dann ist beim ersten Sektor auf der Route immer besondere Vorsicht geboten. Dort geht alles fliegen, was nicht ordentlich befestigt wurde. Damit du nicht zu denen gehörst, die mit ihrem Zubehör die Strecke noch anspruchsvoller gestalten, solltest du wirklich alles doppelt absichern. Endlich kommt die Sicherungsleine aus dem Lieferumfang deines Radcomputers mal zur Geltung und deine Satteltasche freut sich über einen Kabelbinder. Leichtbau-Flaschenhalter aus Carbon sparen zwar ein paar Gramm, aber hier lohnt sich die Investition in ein paar günstige Metallexemplare, die du von Hand noch etwas zubiegen kannst. Alternativ benutzt du sowieso schon eine Kombination aus Flasche und Halter, die absolut bombenfest ist. Wenn alles festsitzt, dann nimm den Drehmomentschlüssel zur Hand und überprüfe noch mal alle Schrauben. Du möchtest nicht mitten im Carrefour de l’Arbre feststellen, dass deine Vorbauschrauben nur halbherzig befestigt waren.

Garminhalterung Rotor Rennrad
Die Schnur kostet sicher 0,8 Watt Luftwiderstand, aber ein zersplitterter Bildschirm kostet mehr

Auch deine Kette freut sich über mehr Sicherheit: Dank des kometenhaften Aufstiegs des Gravelbikes kommen inzwischen zahlreiche Schaltwerke aller großen Schaltungsanbieter mit Dämpfungsmechanismen. Die beschützen dich vor Kettenabwürfen (die wegen des Geholpers häufiger passieren), und lassen den Antrieb generell auch leiser laufen, weil die Kette weniger klappert.

Ultegra RX Schaltwerk
Das Ultegra-RX-Schaltwerk dämpft mit aus dem MTB-Bereich bekannter Technik die Kette

Vergiss das Material: Was wirklich zählt

Die richtige Reifenwahl zusammen mit gepolsterten Handschuhen bringt dich leider nicht automatisch zum Zielstrich im Velodrom von Roubaix oder zum KOM bei dir um die Ecke. Zur Strecke passendes Material verringert die Chance, dass du eine Panne hast, aber fahren musst du immer noch selber. Tatsächlich ist die ganze Zeit, die du mit Dichtmilch und Lenkerband verbracht hast, nur Vorgeplänkel im Vergleich zu dem, was jetzt kommt.

Vorbereitung

Möchtest du enden wie die Rundfahrtspezialisten, die sich zu fein waren, im Frühjahr wenigstens mal bei Dwars door Vlaanderen anzutreten und dann im Juli bei der Pavé-Etappe in Frankreich ihre Siegchancen in Rauch aufgehen sehen? Zugegeben: Es gibt nichts, was dich auf den Schock vorbereiten kann, mitten in einer Gruppe Ellbogen an Ellbogen in den ersten Sektor zu knallen. Du kannst aber immerhin schon ein Gefühl dafür bekommen, wie sich dein Fahrrad verhält, wenn der Untergrund plötzlich wechselt. Es gibt überall ruhige Kopfsteinpflaster-Straßen, auf denen du dich ganz gemächlich an dein Wohlfühltempo und die Limits deines Materials herantasten kannst. Das lohnt sich nicht nur, wenn eins deiner sportlichen Ziele Kopfsteinpflaster beinhaltet, sondern auch für ganz normale Touren, wenn bei der Routenplanung wieder mal nur mäßig auf den Straßenbelag geachtet wurde.

Sitzposition

Normalerweise verbringst du wahrscheinlich den größten Teil deiner Zeit mit den Händen auf den Schaltgriffen. Sobald das Kopfsteinpflaster in Reichweite kommt und du attackieren möchtest, legt der Instinkt die Unterlenkerposition nahe. So bist du zwar aerodynamischer, aber gleichzeitig verlagerst du dein Gewicht auch nach vorne und hast mehr Druck auf Händen und Armen. Das ist beides kontraproduktiv – stattdessen solltest du zum Oberlenker greifen. Dein Gewicht muss nach hinten, damit das Hinterrad an den Boden gepresst wird und du immer Traktion behältst. In jedem Fall solltest du mit leicht angewinkelten Armen und entspannten Händen nach dem Lenker greifen. Je lockerer du zugreifst, desto mehr kannst du das Gerüttel der Straße von dir fernhalten und so länger frisch bleiben. Und wenn du richtig frisch bist, dann versuch, auf den Pedalen „aufzustehen“ und einen kleinen Spalt Luft zwischen deinen Hintern und den Sattel zu bringen. So bist du weitestgehend vom Pflaster isoliert.

Kopfsteinpflaster Rennrad Unterlenker
Was bringt dir dein 1400-Watt-Antritt, wenn die Hälfte davon im Nichts verpufft, weil dein Hinterrad durch die Luft tanzt?

Geradeaus wie in Nordfrankreich

Mit der richtigen Ausrüstung versehen und korrekt auf dem Rad sitzend, kannst du jetzt den nächsten Schritt wagen: flaches Kopfsteinpflaster. Mit etwas niedrigerer Trittfrequenz als gewohnt geht es auf in den Spaß. Sieh genau hin, wo du langfährst, denn es fehlen gerne mal Steine und selbst Tubeless-Reifen sind nicht bombensicher. Es ist keine Schande, in den Rinnstein zu wechseln, das tun die Profis schließlich auch, wann immer sie es können. Ansonsten ist die Krone in der Mitte der „Straße“, die nicht von Auto- oder Traktorreifen zerfahren worden ist, meistens der sicherste Ort. Bei Regen wird diese sichere Spur gefühlte zwei Zentimeter breit, weil dann die kleinen Höhenunterschiede zu den Fahrspuren immer wieder für Stürze sorgen. Wenn du merkst, wie dein Hinterrad auf glitschigem Kopfsteinpflaster ausbricht, dann pfeif auf deine Instinkte und tritt stur weiter. So hast du noch eine Chance, das Rad wieder zu fangen.

Bergauf wie in den flämischen Ardennen

Der Koppenberg ist wegen der mehrfach geänderten Streckenführung schon längere Zeit nicht mehr der Scharfrichter in der Flandernrundfahrt. Er bleibt trotzdem der unbestrittene König aller Kopfsteinpflasteranstiege. 500 Meter mit gemittelt gut 12 % und einer Maximalsteigung von 22 % klingen auf dem Papier zwar anstrengend, aber irgendwie machbar. Die Realität sieht anders aus und du brauchst nicht nur stramme Waden, sondern auch gute Technik und eine Portion Glück, um nicht absteigen zu müssen. Der schmale Weg wird ausgerechnet im steilen Mittelstück von hohen Erdwällen flankiert. Wirklich trocken wird es deswegen dort selten und so musst du darauf hoffen, dass dein Hinterreifen irgendwo noch ein kleines bisschen Grip findet. Bleib auf jeden Fall im Sattel, wirf alles Gewicht aufs Hinterrad, wuchte dich mit gleichmäßiger Trittfrequenz über die steilen Stücke und bete, dass vor dir niemand stehen bleibt. Wenn einmal der Fuß auf dem Boden ist, dann ist schieben angesagt.

Paterberg Flandernrundfahrt Kopfsteinpflaster
Das Pünktchen auf dem I und der Tropfen, der oft genug das Fass zum Überlaufen bringt: der Paterberg

Einstellung

Weder das richtige Equipment noch eine ausgefeilte Fahrtechnik helfen dir aber letzten Endes, wenn die wichtigste Zutat fehlt: Bock auf ballern. Es klingt paradox, aber du kommst tatsächlich einfacher über das Pflaster, je schneller du fährst. Unter der Lupe sieht Kopfsteinpflaster aus wie ein ewiges Auf und Ab – wenn du schnell genug bist, dann fährst du gar nicht durch die „Täler“ und musst jeden „Anstieg“ erneut bezwingen, sondern schwebst quasi über den „Gipfeln“ über die meisten Unebenheiten einfach hinweg. Wenn du dein Material sorgfältig ausgesucht und ordentlich vorbereitet hast, dann halten dich auch keine Sorgen um die Technik zurück. Kopf aus und Party an!

Kopfsteinpflaster Rennrad Brandenburg
Man glaubt es kaum, aber das Gerumpel kann echt Spaß machen!

Wenn in Zukunft der Rest der Gruppe kopfschüttelnd abbremst, ist deine große Stunde gekommen. Mit triumphierendem Geheul kannst du jedes Pavé-Segment attackieren, weil du ganz genau weißt: Schnell fahren macht nirgendwo mehr Spaß!