Oh du schöne, neue Welt! Wir können (fast) alles kaufen, was sich an MTB-Technik vorstellen lässt. Gerade im Bike-Sektor ist die Produktvielfalt in der letzten Dekade explodiert. Angesichts dieser Fülle von Möglichkeiten könnte man von einer großen Euphorie unter Bikern ausgehen. Aber manchmal begegnet man eher dem Gegenteil. Die „gute alte Zeit“ wird nostalgisch vermisst. Im Rückblick wird den Parts von früher eine heute vermeintlich seltene Haltbarkeit und Liebe zum Detail zugeschrieben. Und sowieso sei Mountainbiken damals irgendwie echter gewesen, jenseits von 29 Zoll, Carbon-Fullys oder gar E-MTBs. Wir sind einmal in uns gegangen und überlegt ob uns da die Erinnerung nicht einen Streich spielt. Wie hat sich die MTB-Technik entwickelt? Welche moderne Errungenschaft wollen wir auf keinen Fall mehr missen – und auf welches Revival könnten wir gern verzichten?
Schaut euch mal die Bilder von Richie Schley und Brett Tippie an, die seit den späten Neunzigern mit ihren Bikes über – bis heute anspruchsvolle – Trails in British Columbia schepperten. Da findet ihr keine coolen Fullface-Helme mit schlanken Formen, keine modisch geschnittenen, funktionalen Klamotten, Federelemente mit Plattform oder Bladder-Innenleben, geschweige denn Carbonrahmen oder -Laufräder.
Klar muss es nicht immer das Neueste vom Neuesten sein, aber das Level an Bequemlichkeit und Technik, an das wir uns inzwischen gewöhnt haben, ist ziemlich abgefahren. Auf dem Weg zu diesem Level wurde viel experimentiert, probiert und ziemlich viel in die Tonne gehauen.
Antrieb
Einer unserer Favoriten ist der Antrieb selbst, also das, was uns nach vorne bringt. Vor kurzem hat SRAM einen elektrischen Antrieb vorgestellt, der zudem kabellos auskommt: Eagle AXS. Am Anfang unseres Sports gab es genau einen Gang, doch schnell merkte man, dass mehr Gänge mehr Spaß und Reichweite bringen. Oder überhaupt den Aufstieg zum Gipfel ermöglichen – auch wenn es durchaus mit nur einem Gang geht! Im Stil von „Viel hilft viel!“ wurde lange Zeit der MTB-Antrieb vorangetrieben. Die Schalterei mit Umwerfer und drei Kettenblättern vorne sowie stetig steigender Ritzel-Anzahl führte zu 24, 27 und später 30 Gängen. Man durfte am MTB wie wild an beiden Lenkerseiten im Antrieb rumrühren, als wäre man der DJ bei einer Dorfparty und nicht im Begriff, einen Anstieg im Gelände zu bezwingen.
Schaltung
Damit nicht genug, machte man sich natürlich Gedanken darüber, wie man das Schalten an sich verbessern könnte. Unser Favorit der Stilblüten hier: die Shimano Airline, die mithilfe von Luftdruck die Gänge wechselte. Den Drucktank konnte man im Flaschenhalter transportieren. Praktisch, oder?
SRAM machte dann das zweite (oder gar dritte) Kettenblatt vorne obsolet, indem es seinen XX1 11-fach-Antrieb vorstellte. Inzwischen ist es für uns kaum vorstellbar am Mountainbike, mehr als ein Kettenblatt an der Kurbel zu montieren. Merkwürdigerweise bringt uns ein moderner 1×12 Antrieb mindestens genauso weit wie die aufwendige Gangklaviatur von einst. Nur leiser, präziser, mit Platz für breitere Reifen und effizienteren Hinterbauten.
Reifen
Apropos Reifen. Sie bringen unsere Kraft auf den Boden und auch an dieser Front ist einiges passiert – ganz abgesehen von größeren Umfängen (29″ und 27,5″) und zunehmender Reifenbreite (2,4″ ist das neue 2,1″). Wir erinnern uns noch gut an die ersten Downhill-Reifen, die vor allem eins sein sollten: weich! Denn weiches Gummi bedeutet Grip, richtig? Dass die Reifen Stollen verloren, wie eine Katze ihr Fell bei der Mauser war da zweitrangig. Auch die Konstruktion hinkte den Reifen im Motorsport lange hinterher. Während man dort schon längst ohne Schlauch unterwegs war, kämpften wir uns bis vor wenigen Jahren noch regelmäßig mit Ersatzschlauch und Flickzeug durch die Touren. Von Rennen schleppte man nicht selten einen Sack nach Hause, der gefüllt war mit kaputten Schläuchen und Reifen. Nicht nur finanziell, sondern auch ökologisch eigentlich ein Alptraum. Inzwischen haben wir Schlauchlos-Betrieb, verstärkte Karkassen und hochwertige Gummigemische: Willkommen im 21. Jahrhundert!
Der gute Durchschlagschutz und die Breite erlauben es heute, mit oft kaum mehr als der Hälfte des einstigen Luftdrucks unterwegs zu sein – in der Regel deutlich schneller über mindestens die gleichen anspruchsvollen Strecken. Dass einem dabei nicht nach der ersten Abfahrt die Reifen um die Ohren fliegen, hat modernes Mountainbiken erst zum entspannten Outdoorsport werden lassen – statt zur Bastelstunde im Wald.
Federgabeln
Apropos Bastelstunde: Erinnert ihr euch noch an Federgabeln, die Elastomere statt Luftfederung und Öldämpfer hatten? Das Prinzip war einfach: Die Gummis bremsten die Bewegung der einfedernden Gabelholme ab (die etwa 40 mm Federweg zur Verfügung stellten) und brachten gleichzeitig durch Reibung etwas Dämpfung und so vermeintliche Kontrolle ins Fahrwerk. Die kleinen Gummipuffer in unterschiedlichen Farben hatten leider ein größere Problem mit sehr hohen und sehr niedrigen Temperaturen. Sie wurden hart, spröde oder lösten sich schlichtweg auf und vorbei war es mit der „Dämpfung“. Von Kartuschen oder gar offenen oder geschlossenen Ölbädern wagte damals kaum einer zu träumen. Das war den Cracks der Motorrad- und Automobilbranche vorbehalten. Heute hat sich das Bild etwas gedreht und beim Fahrrad finden Innovationen statt, die locker mit Moto GP oder Formel 1 mithalten können.
Laufräder
Denken wir alleine an die neuen ZIPP Laufräder. Carbonfelgen, die sich mit dem Untergrund bewegen und Sensoren, die den Luftdruck messen. Das klingt schon ziemlich Hightech, oder? Generell hat sich bei den Laufrädern viel getan. Alleine die Tatsache, dass wir heutzutage 29-Zoll-Laufräder in Downhill-World-Cup-Bikes finden, spricht für sich. Die Materialien sind besser geworden, genau wie die Qualität der einzelnen Komponenten. Durch die sogenannte „Box“-Bauweise der Felgen, bei denen Außenwände und Innenfläche der Felgen einen Hohlraum bilden, wurden Aluminiumfelgen bei gleichem Gewicht deutlich haltbarer. Die Übernahme dieser Technik auf Felgen aus Carbon brachte Laufräder zustande, die so steif waren wie noch nie zuvor. Mit ZIPP geht die erste Marke in die entgegengesetzte Richtung, weil die Laufräder teilweise einfach zu steif sind. Diese Aussage wäre vor etwa zehn Jahren noch völlig unvorstellbar gewesen!
Während man vor einige Jahren noch unsicher war, mit welchem Bike man an einem Stück ins Ziel kommen würde, finden sich heutzutage kaum noch wirklich schlechte Räder. Die Masse an Innovationen und Neuerungen ist schier unbegreiflich und jedes Jahr gibt es etwas Neues. Vieles davon hilft uns weiter, anderes verschwindet nach einiger Zeit wieder in der gnädigen Versenkung. Letztlich weiß man immer erst später, ob etwas gut oder sinnlos war.
Da wir es aber alle lieben, unsere Bikes ständig zu verbessern und zu tunen, wird es auch in Zukunft abgedrehte Produkte und Bikes geben. Manche Konzepte, die schon vor Jahrzehnten erhältlich waren, kommen jetzt erst so richtig zur Blüte. Zum Beispiel ein perfekt abgestimmtes Carbonlayup in den Kettenstreben, so dass der Rahmen federt und man gar keine Federgabeln und Dämpfer mehr braucht? Das Topstone von Cannondale macht da einen Aufschlag – und wir haben es auch schon getestet. Auch Parallelogramm-Gabeln gab es schon häufig, überzeugen konnte bisher keine. Die Version von Trust Performance wurde hingegen in ersten Tests sehr wohlwollend angenommen. So oder so, wir bleiben gespannt darauf, was noch kommen wird!
Auch der Brügelmann-Katalog enthielt durch die heutige Brille betrachtet die eine oder andere Stylesünde. Eine Ikone: Die Marzocchi Shiver Yeti ist eine der Marken, die auch schon ewig dabei sind. Die Bikes sehen heute aber etwas besser aus. Ja, so sahen mal die Fullface-Helme aus. Die Anfangszeit des Mountainbikes war eine Zeit des Ausprobierens. Style war schon immer wichtig! Auf dem Weg zu einem funktionierenden Fahrwerk lag die eine oder andere Sackgasse.