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Ein Radjournal von Brügelmann

Philipp Martin Marketing Manager Orbea

Fahrrad 2021: Von der Krise zur Chance?

Fahrrad 2021: Von der Krise zur Chance?

Orbeas Marketing Manager Philipp Martin im Interview

Brügelmann Blog 6. Mai 2021 10 min.

Die Fahrradwelt steht Kopf: Trotz – oder gerade wegen – einer globalen Pandemie boomt das Geschäft mit den lautlosen Zweirädern. Die Liste der ab Lager verfügbaren Bikes schrumpft, während die Lieferzeiten immer länger werden. Immer mehr Menschen lernen das Rad ganz neu kennen und schätzen. Wir wollten einmal aus erster Hand wissen, mit welchen Problemen die Fahrradbranche deshalb gerade zu kämpfen hat, wie groß dieser „Boom“ wirklich ist und welche Chancen sich aus all dem vielleicht auch für die Zukunft ergeben. Dafür sprachen wir mit Philipp Martin, der als Marketing Manager bei Orbea arbeitet und extra für uns sein Mountainbike kurz abstellte, um ein bisschen aus dem Nähkästchen zu plaudern.

Hi Philipp! Wer bist du, wo kommst du her und was treibst du so, wenn du nicht gerade in einer Orbea-Mission unterwegs bist?

Hallo zusammen! Ich habe seit über 20 Jahren beruflich mit Fahrrädern zu tun. Da ich erst 36 bin, könnte man also auch sagen: schon immer. Vielleicht liegt das auch mit daran, dass ich, obwohl ich im Umland von Bremen geboren bin, seit Mitte der 1990er in Freiburg lebe. Die Mountainbike-WM 1995 in Kirchzarten war da sozusagen der Trigger für mich. Seitdem lässt mich das Rad nicht mehr los. Heute lebe ich mit Frau und Kind mitten in Freiburg, wenige hundert Meter von den Trails entfernt. Hier habe ich vor ein paar Jahren auch das Bikefestival Freiburg gegründet und von hier aus läuft seit Anfang 2021 das Marketing für Orbea in Deutschland und Österreich.

Philipp Martin Mountainbike Freiburg
Philipp lebt und arbeitet in Freiburg. Und genau dort fährt er auch am liebsten Fahrrad – was man gut verstehen kann, schließlich ist Freiburg ein echter Mountainbike-Hotspot! Foto: Sebastian Beilmann

Du bist ja Mountainbiker der alten Schule. Hättest du dir vor 20 Jahren träumen lassen, auf was für Bikes wir heute unterwegs sind? Was sind aus deiner Sicht die spannendsten technischen Entwicklungen der letzten Jahre?

Puh, vor 20 Jahren waren die technischen Highlights der Bikes unerreichbar für mich. Darum war ich damals primär damit beschäftigt, von der Gegenwart zu träumen. Was die spannendsten Entwicklungen sind? Normalerweise müsste jetzt ja so was kommen wie Scheibenbremsen, absenkbare Sattelstützen, E-Bikes oder ganz aktuell light E-MTB’s. Aber ehrlich gesagt sind das für mich alles eher die Resultate aus der wirklichen Entwicklung: Radsport ist eine absolute Breitensportart geworden. Was vor 20 Jahren nur von Freaks betrieben wurde, hält heute Einzug in den Sportunterricht. Dass sich die Produkte weiterentwickeln, wenn so viele Menschen sich dafür begeistern, ist doch nur der logische nächste Schritt.

Orbea Yovana Anzeige
Die Historie von Orbea reicht deutlich länger in die Vergangenheit zurück als 20 Jahre. 1840 wurde Orbea als Hersteller von Waffen gegründet. 1920 begann man damit, Fahrräder zu bauen. Seit 1969 ist das Unternehmen als Genossenschaft organisiert. Hier das Bild eines neuen Bikes aus dem Jahr 1970.

Wo fährst du am liebsten und auf welchem Bike?

Das ist ganz einfach: in Freiburg. Zum einen nervt es mich, wenn ich mich zum Radfahren vorher ins Auto setzten muss, besonders für eine kurze Feierabendrunde. Zum anderen sind die Möglichkeiten in Freiburg vermutlich mit die besten, die sich in Deutschland finden lassen. Aktuell fahre ich viel mit meinem neuen Rise. Ähnlich oft bewege ich mein Rallon. Dem Schwarzwald ist es egal, womit ich fahre – der hat für jedes Rad die richtigen Strecken.

Du bist ja vor einiger Zeit Vater geworden. Was macht das mit einem? Ändert das eine Art des Radfahrens? Und welche Rolle spielt das Bike in der Mobilität deiner Tochter?

Definitiv. Radfahren bekommt mehr Ausflugscharakter. Alles findet etwas langsamer und gemütlicher statt. Aber ich genieße das sehr. Vor allem aber habe ich das Gefühl, genau zum richtigen Zeitpunkt Vater geworden zu sein. Die Auswahl an Möglichkeiten, wie ich mein Kind mit aufs Bike nehmen kann, ist riesig. Alleine unser Singletrailer, von so etwas konnte die Generation unserer Eltern ja nur träumen. Das macht einfach wahnsinnig viel Spaß. Und dank Oma ist auch immer mal wieder Zeit, dass Mama und Papa gemeinsam richtig shredden können.

Philipp Martin Orbea Rallon

Warum in die Ferne schweifen? Philipp hält es ganz mit Goethe: Am liebsten ist er rund um seine Wahlheimat Freiburg unterwegs. Foto: Sebastian Beilmann

Was die Mobilität angeht: Uns ist wichtig, dass unsere Tochter das Fahrrad einfach als Fortbewegungsmittel mit Spaßfaktor kennenlernt. Darum versuchen wir immer, Nützliches mit Entertainment zu verbinden. Einkaufen und Spielplatz mit dem Lastenrad? Ist doch die beste Kombination überhaupt. Dass es in Deutschland jetzt so viele Radentscheide gibt, macht das Ganze noch besser. Ich bin sehr gespannt, ob meine Tochter noch einen Führerschein will.

Smarte Mobilität von Orbea

Kommen wir mal zur aktuellen Situation. Zu Beginn der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 sah es ja zunächst einmal gar nicht so gut aus: Stationäre Händler mussten ausgerechnet im umsatzstarken Frühjahr schließen und es sah nach einem herben Dämpfer für die seit Jahren wachstumsverwöhnte Fahrradbranche aus. Mittlerweile kann man sagen, dass es anders kam. Viele Händler kommen gar nicht mehr hinterher. Kann man heute sagen, dass das Fahrrad als einer der „Gewinner“ aus der Krise herausgeht?

Ich denke, wirklich niemand sollte aus einer globalen Pandemie als „Gewinner“ herausgehen. Haben wir alle gut verkauft? Ganz sicher! Bringt das auch ungeahnte Schwierigkeiten mit sich? Auch das ist der Fall. Wir werden alle noch lange mit der Pandemie zu tun haben, und wohin die Reise geht, kann leider keiner von uns genau vorhersagen. Fest steht: Bei weitem nicht alle Akteure der Branche stehen gerade gut da, denn unsere Industrie besteht nun mal aus mehr als Herstellern und Händlern. Da gibt es zum Beispiel die vielen Events, welche meines Erachtens zum Herz unseres Sports gehören. Wir müssen mit wachen Augen nach vorne schauen, smarte Entscheidungen treffen und uns darum kümmern, dass alle, die heute zur Industrie gehören, auch in den nächsten Jahren noch mit dabei sind. Dann können wir es vielleicht schaffen, mit einem statt zwei blauen Augen davonzukommen. Wenn das der Fall ist, können wir sicherlich alle am Ende sehr zufrieden sein und uns glücklich schätzen, in einer Branche zu arbeiten, welche die Zukunft der Mobilität entscheidend beeinflussen wird.

Viele Hersteller haben mittlerweile Lieferschwierigkeiten. Das ist aber nicht nur der hohen Nachfrage geschuldet. Kannst du kurz erklären, welche Problematik – Stichwort Lieferketten – ihr gerade noch in den Griff bekommen müsst?

Auch das ist relativ einfach erklärt: Die Nachfrage ist gerade größer als die Kapazitäten. Und das trifft auf wirkliche jede einzelne Komponente hinzu. Jeder, egal ob Händler, Hersteller oder Zulieferer ist gerade gezwungen, weiter in die Zukunft zu planen, als es bisher üblich war. Daraus entstehen vor allem unternehmerische Risiken, die es abzuwägen gilt.

Mountainbikes von Orbea

Bei vielen Herstellern gibt es für bestimmte Modelle lange Lieferzeiten. Wie sieht das bei Orbea aus? Welche Maßnahmen ergreift ihr, um das Problem in den Griff zu bekommen?

Das trifft uns genau so wie alle anderen. Am Ende geht es oft um einzelne Teile, die aber dann dazu führen, dass wir ein Rad nicht ausliefern können. Wir sind natürlich in einem ständigen Austausch mit unseren Zulieferern, um das Bestmögliche herauszuholen. Die Tatsache, dass unsere Produktion in Europa ist, hilft uns sicherlich dabei, in vielen Fällen sehr flexibel zu sein und kreative Optionen auszuloten. Aber auch mit unseren Händlern pflegen wir einen offenen und direkten Austausch. Je mehr wir miteinander kommunizieren, desto besser lassen sich Probleme in den Griff bekommen.

Orbea Hauptquartier Mallabia
Bei Orbea ist man stolz darauf, die Räder vor Ort in Mallabia zu lackieren und zusammenzubauen. Und gerade in schwierigen Situationen, ist es durchaus auch ein Vorteil, alles im eigenen Haus zu haben.
Foto: Orbea

Abgesehen vom allgemeinen Run auf die Radshops – hat sich generell das Kaufverhalten der Kunden durch Corona verändert? Sind Menschen beispielsweise bereit, mehr Geld für ihr Bike auszugeben, weil es in ihren Leben eine wichtigere Rolle spielt? Spürt ihr da irgendwelche Effekte?

Im Frühjahr 2020 wurden bei vielen plötzlich längst verplante Budgets frei. Denn Urlaube sind ausgefallen, reisen war nicht mehr möglich. Was liegt da näher, als in ein neues Rad zu investieren. Sicher saß der Geldbeutel da etwas lockerer und es wurden, auch mit Blick auf die Verfügbarkeiten, eventuell hochwertigere Räder gekauft, als ursprünglich geplant. Für viele war das bestimmt das erste neue Rad seit vielen Jahren. Dass so ein Rad mehr Spaß macht als eines, das seit Jahren im Keller steht, wissen wir auch alle. Und mit dem Spaß kommt auch die Freude daran, mehr Rad zu fahren. Genau so sind im Sommer 2020 ganz sicher sehr viele Menschen aufs Rad gekommen. Bei vielen ist Radfahren heute Alltag. Völlig egal ob sportlich oder urban, ob mit Motor oder ohne. Das wird zu 100 Prozent der Wahrnehmung und Nutzung des Fahrrades in Deutschland einen neuen Stellenwert verleihen.

Welche Art von Fahrrad erfreut sich gerade bei euch der größten Nachfrage – kannst du das sagen?

E-MTBs sind gerade der „heiße Scheiß“. Aber das sind sie nicht erst seit Corona. Das Segment erfindet sich fast im Jahresrhythmus selbst neu. Das macht den Bereich besonders spannend. Ein bisschen ist das wie als das erste iPhone kam. Der Markt war schon wirklich spannend und modern, dann kam aber was, das alles auf den Kopf gestellt hat. Der Unterschied ist nur, wir werden unsere Wurzeln sicher nie vergessen und auch weiterhin extrem spannende und innovative Räder ohne Motor auf den Markt bringen. Dass wir das können, haben wir in diversen Tests unseres XC-Flagschiffes Oiz gerade wieder unter Beweis gestellt und das ist sicher auch der Grund dafür, warum wir tatsächlich in allen Bereichen wachsen und nicht nur bei den E-Bikes.

Orbea Oiz Mountainbike
Was Mountainbiking für Orbea bedeutet? Ziemlich genau das hier! Was nicht weiter verwundert, wenn man weiß, dass es nicht weit entfernt vom Firmensitz in Mallabia (Baskenland) so aussieht wie auf diesem Foto.
Foto: Orbea

Ist eigentlich ein Ende dieses Booms in Sicht? Hat nicht langsam mal jeder sein neues Bike gekauft?

Wenn du das beantworten kannst, bist du sofort eingestellt. Klar haben sich viele Menschen gerade ein Rad gekauft. Kaufen in 2021 deshalb weniger Kund*innen oder werden eventuell gerade dadurch bei noch mehr Menschen neue Bedürfnisse geweckt, die sie so bisher nicht bewusst wahrgenommen haben? Wir wissen es einfach nicht, aber wir werden es erfahren. Fest steht, die Lobby der Radfahrer wächst, und mit ihr auch die Möglichkeiten, die der Staat schafft, um das Radfahren attraktiver zu machen.

Rennräder von Orbea

Grundsätzlich gibt es ja genügend Gründe zur Annahme, dass in der Zukunft das Fahrrad an sich eine immer wichtigere Rolle spielen wird. Da ist vor allem der Mobilitätswandel, also ein Umdenken im Alltag. Aber auch ein verändertes Reiseverhalten könnte dem Fahrrad in die Karten spielen. Was denkt ihr, wohin diese Entwicklung geht? Wie bereitet ihr euch darauf vor? Ergreift ihr vielleicht sogar Maßnahmen, um zum Beispiel den Mobilitätswandel aktiv mitzugestalten?

Das ist jetzt fast ein bisschen witzig, dass ihr das genau heute fragt. Heute Nachmittag launchen wir nämlich eine Kampagne, die sich „Street Sounds“ nennt. Dabei geht es darum, dass wir Menschen suchen, die sich aktiv für das Radfahren in ihrer Kommune einsetzen. Zwei dieser Menschen möchten wir am Ende mit unserem neuen Urban-E-Bike Vibe unterstützen. Und auch im MTB-Bereich überlegen wir uns, wie wir uns stark machen können. Wir denken, als Radhersteller gehört es zu unseren Aufgaben, uns auch daran zu beteiligen, dass unsere Produkte in dem Umfeld genutzt werden können, für das wir sie entwickelt haben. Grundsätzlich glaube ich, dass wir alleine deshalb, weil unser Unternehmen eine Genossenschaft ist, in vielen Belangen eine andere Sicht auf die Dinge haben. Und ich würde sagen, dass wir immer die Menschen mit im Blick haben, die mit unserem Produkt in Berührung kommen. Seien es die Kund*innen, die Händler*innen, oder die Fabrikarbeiter*innen, die bei uns im Baskenland unserer Räder montieren.

Danke für das Gespräch, Philipp! Und viel Erfolg weiterhin mit und viel Spaß auf den Bikes von Orbea.