E-Bikes sind im Fahrraduniversum nicht mehr so umstritten wie noch vor ein paar Jahren, können aber immer noch Stoff für heiße Diskussionen bieten. Für die einen bieten E-Bikes neue Möglichkeiten, für die anderen haben E-Bikes mehr mit Mofas als mit Fahrrädern zu tun. Da das Thema natürlich generell viele verschiedene Aspekte und Dimensionen hat, wollen wir anhand einer speziellen und relativ neuen Form des E-Bikes diese Diskussion führen. Was sich im Mountainbike-Bereich bereits stark etabliert hat, gilt bei Rennrädern noch als Exot. Bei manchen Modellen wie dem Orbea Gain sieht man erst beim zweiten Hinsehen, dass es kein herkömmliches Rennrad ist, sondern eben eins, das eine Unterstützung an Bord hat. Aber was genau sind nun die Pro- und Contra-Punkte? Wir haben zwei verschiedene Meinungen dazu eingeholt. Unter der Rubrik Zwei Sättel – Zwei Meinungen haben uns Herwig Reus (Enzo Consulting) und Martin Donat (Herausgeber lifeCYCLE Magazin) ihre Sicht der Dinge dargelegt.
Pro E-Rennrad von und mit Herwig Reus
Herwig Reus kennt sich ziemlich gut aus mit Rennrädern und allem drum herum. Zum einen ist er seit sehr vielen Jahren im Bike-Business tätig, zum anderen hat er selber unzählige Stunden auf dem Sattel verbracht. Heute führt er selbstständig eine Agentur für Marketing, PR und den Vertrieb von diversen Ausdauersport-Produkten. Mit Enzo Consulting will Herwig Reus seine Philosophie von Öffentlichkeitsarbeit erfolgreich umsetzen.
Herwig Reus über E-Rennräder
Ich gehöre der Generation an, die noch mit einer 53-42-Kurbel trainieren durfte. Und ja, nach jedem Training (und auch vor jedem Training mit der Gruppe) musste ich mein Rennrad putzen. Mein Trainer hätte es nicht zugelassen, mich mit einem nicht sauberen Rad in der Gruppe fahren zu lassen. Auch war die eiserne Regel „erst ab 20 Grad kurz“ nicht zu hinterfragen. Sie war Gesetz.
Seitdem hat sich viel verändert. Eins ist aber geblieben: Meine Liebe zum Radsport. In meinem Kopf kann ich die Berge heute immer noch genauso schnell hochdüsen wie „zu meiner besten Zeit“, als ich im Rahmen der Tour de France verschiedenen Gäste betreute und diese die Pyrenäen „hochschob“. Dieses „Hochschieben“ der Gäste hat immer wehgetan (nicht nur im Arm und in der Schulter). Klar, ich war gut trainiert und es war mein Job, die Gäste als besonderes Erlebnis den Tourmalet oder auf den Ventoux zu bringen. Aber es war immer höllisch anstrengend.
Wir Rennradfahrer kennen alle dieses tolle Gefühl, oben am Pass einzukehren und sich mit einem kühlen Getränk zu belohnen. Egal, ob auf dem Spitzingsattel oder am Brocken. Es ist immer ein Teil des Erlebnisses – nicht nur für mich. Der Genuss und die Belohnung, denn es hat ja Spaß gemacht. Auch mit diesen Gästen. Trotz des Hochschiebens. Allen. Den Schiebern und den Geschobenen. Und wenn ich diese Menschen heute ab und zu treffe, werde ich oft gefragt: „Weißt du noch, wie wir da gemeinsam hoch sind? Wahnsinn!“ Jeder hat diesen Moment noch im Kopf. Herrlich.
Und heute? Mein Job ist ein anderer. Ich bin heute immer noch ein leidenschaftlicher Radsportler. Habe einen spießigen Lebensstil, eine Frau, zwei Kinder, ein Haus und viel um die Ohren. Das Übliche halt. Vielleicht bin ich auch vernünftiger geworden in manchen Dingen. Ich weiß jetzt, dass Untrainierte mit 50 Jahren schnell einen Puls von 170 haben. Das waren früher Werte, die ich mir nicht vorstellen konnte.
Hauptsache, du fährst. Auch wenn dir jemand hilft, die Berge raufzukommen. Die Skilifte werden ja auch genutzt – wahrscheinlich auch von dir?
Ich bin beruflich oft im Baskenland. Eine herrliche Landschaft. Steigungen um die zwölf Prozent und mehr sind nicht selten. So ähnlich sieht es auch in meiner Wahlheimat im sächsischen Vogtland aus. Kleine Straßen, viele Kurven, wenig Verkehr. Ein Paradies für Radfahrer, dort wie hier. 600 Höhenmeter auf einer 70-Kilometer-Runde sind da leicht drin. Eigentlich kein Problem – für einen trainierten Radsportler. Aber da mal „schnell“ eine Runde zu drehen erweist sich für mich oft als schwierig, denn entweder wird die Strecke sehr kurz – oder drei Stunden sind sofort eingefordert. Warum also nicht auf einen guten Freund zurückgreifen, der mich an den Steigungen etwas anschiebt? Ich trete ja trotzdem und habe eben nur eine freundliche Unterstützung. Genauso wie damals – nur, dass ich jetzt etwas geschoben werde. Das hilft enorm. Mein Puls bleibt unter 180 und mein Radius beschränkt sich nicht nur auf 20 Kilometer langsames Fahren. Ich habe genauso viel Spaß, schwitze genauso, schone aber meine Knie und mein nicht mehr so wie früher trainiertes Herz. Ist das falsch? Es wäre in meinen Augen falsch, den Sport aufgrund von Zeitmangel aufzugeben. Das haben die Menschen (nicht nur in den Bergen) früher oft genug gemacht. Mit den neuen E-Rennrädern, bei denen der Akku klein und fein – also fast unsichtbar – verbaut ist, sehen die E-Roadies fast wie ein normales Rennvelo aus. Ich selber fahre ein E-Roadbike von Orbea. Auch ist das Gewicht fast so wie bei den Stahlrennern von damals. Ich sage: Hauptsache, du fährst. Auch wenn dir jemand hilft, die Berge raufzukommen. Die Skilifte werden ja auch genutzt – wahrscheinlich auch von dir?
Contra E-Rennrad von und mit Martin Donat
Martin Donat ist einer der beiden Herausgeber vom lifeCYCLE Magazin. Sein Herz schlägt seit über dreißig Jahren für Fahrräder. In seinen wildesten Zeiten stürzte er sich die steilsten Hügel und Rampen hinab. Nach dem Downhill fand er über ein paar Umwege zum Rennrad. Heute sitzt er am liebsten auf dem Gravelbike, mit dem er die wildesten Abenteuer erlebt. Viele seiner Geschichten kann man dann im lifeCYCLE Magazin nachlesen und mit den grandiosen Bildern auch nachempfinden. Im Magazin ist auch das Thema Nachhaltigkeit sehr präsent und genau mit diesem Hintergrund hat Martin auch das ein oder andere Problem mit dem Elektrotrend.
Martin Donat über E-Rennräder
Ich denke, die Menschheit hat zwei herausragende Fähigkeiten: Erstens ist sie in der Lage, grandiose Erfindungen zu machen. Zweitens beherrscht sie es perfekt, diese anschließend ad absurdum zu führen. Beispiele dafür gibt es zur Genüge. Mit einem davon bin ich direkt beim Thema: Das E-Bike, auch genannt Pedelec. Ich bin selbst fasziniert davon, wie sich dieses Fortbewegungsmittel in den letzten Jahren weiterentwickelt hat. Früher waren es hässliche, schwere Karren mit dem Image eines orthopädischen Hilfsmittels, die Oma und Opa Hoppenstedt das Gefühl vermittelten, noch mal kurz dem Altersheim zu entfleuchen. Heute sind es stylische Hightech-Fahrzeuge, die immer effizienter werden und als Statussymbol für so manchen modernen Klima-Hipster herhalten müssen. Diese Räder haben das Zeug dazu, im Alltag viele Autos zu ersetzen, was – trotz aller noch zu lösenden Probleme – erstmal gut ist. Denn dass der massenhafte Einsatz von Autos ein Problem ist, ist ja wohl unumstritten.
Dabei ist das Auto eine geniale Erfindung. Es ist perfekt geeignet, um ganze Familien zu befördern oder um große Lasten zu transportieren. Wenn die Menschheit nur in der Lage wäre, dieses Werkzeug bewusst und nur bei echtem Bedarf zu nutzen, wäre – da bin ich mir sicher – alles halb so wild. So weit ist die Menschheit aber nicht. Das Auto wird für jeden Mobilitäts-Furz aus der Garage geholt: Für die Fahrt zur Arbeit, zum Supermarkt, ja selbst zum Bäcker und zum Kindergarten oder zur Schule. Weil es ja nicht anders geht, weil die Zeit ja sonst gar nicht reicht und weil man ja auf gar keinen Fall in der Lage ist, vor dem Bürojob nochmal das T-Shirt zu wechseln und die Deo-Sprühdose zu betätigen. Heraus kommen Staus, stinkender Smog und eine klitzekleine Klimakrise. Doch das Recht auf grenzenlose Mobilität für alle einfach so hergeben? Undenkbar.
Ein ähnliches Schicksal ereilt zurzeit die vermeintliche Lösung aller Probleme: die Elektromobilität, speziell in Form von Pedelecs. Ganz abgesehen von der immer noch fragwürdigen Akkutechnologie ist ein Pedelec auf überschaubaren Distanzen ganz sicher eine sinnvollere und effizientere Wahl als der dicke SUV. Nebenbei macht es Spaß, sich dabei noch ein bisschen zu bewegen und hilft auf diese Art, gleich noch ein paar typische Zivilisationsprobleme wie Übergewicht, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder gar Depressionen zu lindern. Verkehrsprobleme könnte man so in den Griff bekommen, in der Stadt wäre plötzlich wieder Platz und im Büro würden motiviertere, leistungsfähigere Mitarbeiter sitzen. Natürlich ginge das auch alles mit einem normalen Fahrrad (das ganz am Rande bemerkt die genialste Erfindung überhaupt ist) – diesen Gedanken klammere ich aber mal bewusst aus. Schließlich will man ja auch ein bisschen Spaß haben, oder? Und genau hier fängt mein größtes Problem mit den Pedelecs – insbesondere jenen, die ein „echtes Sportgerät“ ersetzen – an: Ich beobachte immer mehr, wie sie einfach nur dazu hergenommen werden, um Spaß zu haben. So sind am Wochenende typische Freizeit-Radwege genau so von E-Bikes bevölkert, wie viele versteckte Mountainbike-Trails mitten im Wald. Und jetzt auch noch Rennräder? Immerhin kommen mir keineswegs gebrechliche Senioren entgegen, sondern kerngesunde Menschen, oft genug gar Jugendliche, die allesamt bestens in der Lage wären, ein echtes Fahrrad zu bewegen. Na klar: Man kommt schneller vorwärts, kann weitere Distanzen fahren und mehr Trails rocken. Aber ist das alles? Jedes Mal, wenn ich eine Radtour gemacht habe, lade ich meine Fahrt bei Strava und komoot hoch und bin stolz auf das, was ich geschafft habe. Ich habe mir jeden einzelnen Kilometer und jeden einzelnen Höhenmeter selbst erarbeitet. Auf dem E-Bike würde mir dieses wunderbare Gefühl völlig abhanden kommen. Mein geliebter Sport würde zu einem dümmlichen Freizeit-Konsum verkommen.
Ich habe mir jeden einzelnen Kilometer und jeden einzelnen Höhenmeter selbst erarbeitet. Auf dem E-Bike würde mir dieses wunderbare Gefühl völlig abhanden kommen. Mein geliebter Sport würde zu einem dümmlichen Freizeit-Konsum verkommen.
So etwas wie Achterbahn oder Sportwagen fahren. Klar, das macht vielleicht auch mal Spaß. Aber es befriedigt mich bei weitem nicht so, wie eine Radtour, nach der ich es völlig fertig gerade noch so unter die Dusche schaffe. Diese tiefe Zufriedenheit geht mir auf einem E-Bike leider flöten, was ich richtig tragisch finde. Probiert es doch einmal aus. Wagt euch mal wieder raus aus der Komfortzone. Lasst das Auto mal stehen und radelt zum Supermarkt. Bringt die Kids zu Fuß zur Schule. Atmet mal tief durch und genießt die kalte Luft, die Anstrengung und die Frische, die auf einmal durch jeden Muskel zuckt. Pumpt die Reifen eures guten, alten Rennrads mal wieder auf und lasst euch überraschen, wie geil dieses Gefühl ist, wenn man ausgepowert und verschwitzt wieder zu Hause ankommt und stolz darauf sein kann, es ganz allein geschafft zu haben. Ich bin mir ganz sicher: Ihr werdet eine ganz „neue“ Art von Spaß dabei haben!
Gegen ein E am Rennrad spricht für Herwig Reus rein gar nichts. Für ihn ergibt sich aus einer motorisierten Hilfestellung besonders in bergigen Gegenden und/oder nicht ganz so guten konditionellen Grundlagen kein Widerspruch. Martin Donat hingegen verzichtet lieber auf die Portion Extraschub und will sich seine Augenblicke mit Ausblicken selbst erarbeiten. Irgendwie fällt es schwer, über das Thema E am Rennrad eine endgültige Meinung zu haben, denn irgendwie haben ja beide recht. Das Wichtigste ist deshalb für uns, dass jeder seinen eigenen Weg findet, auf zwei Rädern glücklich zu werden. Egal, ob mit oder ohne Unterstützung.