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Ein Radjournal von Brügelmann

Atlas Mountain Race Marokko Bikepacking

Team Terrible Heaven beim Atlas Mountain Race

Team Terrible Heaven beim Atlas Mountain Race

Unser Kollege Alex berichtet über seine Erfahrungen beim Atlas Mountain Race in Marokko

Brügelmann Blog 9. April 2020 9 min.

Wie bereits berichtet kam das erste Ziel der Saison für unseren Kollegen Alex dieses Jahr recht früh. Das Atlas Mountain Race in Marokko sollte sein erster Schnupperkurs in Sachen Bikepacking-Rennen werden. Hier sind die Eindrücke, die er in einer Woche im marokkanischen Backcountry zusammen mit seinem Teampartner Marc gesammelt hat, während die zu Hause gebliebenen Kolleg*innen wie gebannt den GPS-Punkt mit seiner Startnummer auf der Livetracking-Karte verfolgten.

Lektionen in Ultra Cycling: Wie viele „erste Male“ passen in eine Woche?

Ein jäher Schlag bringt mich zurück in die Realität. Mein überdimensional großer Verpflegungsbeutel mit einem kompletten Bikepacker-Buffet schlägt auf meinem Vorderreifen auf. Die Tempohatz auf Asphalt findet ihr jähes Ende als der Pulk von über 180 Fahrer*innen in die erste Schotterpassage abbiegt. Knapp eine Stunde davor hatte Nelson Trees, Renndirektor und Organisator des ersten Atlas Mountain Race, das Peloton aus Ultra-Endurance-Recken auf die 1150 Kilometer lange Strecke entlassen. Mit dem Startschuss verflog langsam meine Nervosität, die sich nun schon über Wochen angestaut hatte. Zusammen mit meinem Team Partner Marc steckte ich jetzt mittendrin in meinem ersten Self Supported Bikepacking Race. 

Rasierte Beine vs. Startzigaretten

Was dieser Terminus nun tatsächlich bedeutet, erfahre ich langsam, als Theorie zu Praxis wird. Mein Blick schweift über das Starterfeld und ich erkenne, dass die Stereotypen, die ich sonst aus Radrennen kenne, hier ganz andere sind. Mit unserem bis ins letzte Detail durchgestyltem Equipment und glattrasierten Beinen fallen wir definitiv auf. Eine Zigarette zum Rennstart sorgt hier bei niemandem für erstaunte Gesichter. Das lässt uns schon erahnen: die reinen Bikeskills werden nur ein Teil des Puzzles sein. Als Novizen beherrschen wir nur unsere Bikes, alles andere werden wir auf der Strecke lernen. Nachdem der letzte Riegel in eine Tasche gequetscht ist und das fertige Bike im Hotelzimmer vor mir steht, ist die Nervosität auf Höchststand. Wie viele „erste Male“ kann man in eine Woche packen? Schon mal im Biwacksack geschlafen? Nein! Ein zwanzig Kilo schweres Bike im Gelände und über Gebirgspässe gesteuert? Nein! Sich eine Woche nur von Omelettes, Riegeln und Nüssen ernährt? Nein! Sechs Tage lang die gleiche Radhose getragen? Nein! Mehr als 7,5 Stunden am Stück auf dem Sattel gesessen? Nein! Die Liste wird immer länger und mir schwindlig, aber es wird schon alles gut gehen.

Atlas Mountain Race Marokko Bikepacking
Kurz vor dem Start: Saubere Räder, entschlossener Blick | Foto: Marc Lehmann / @hhcc_marec

These boots are (not) made for walking

Mit jedem Kilometer und jeder Stunde lösen sich diese Gedanken weiter auf. Die sich ständig wechselnde Landschaft des Atlas lässt mich immer wieder mit offenem Mund dastehen. Die karge Natur trägt eine pure, rohe Schönheit in sich, die gerade bei untergehender Sonne ein faszinierendes Farbenspiel präsentiert. Endlose Flussbetten wechseln sich mit mühevoll in den Berg geschlagenen alten Kolonialpfaden, die sich in unzählbaren Serpentinen in die Höhe schrauben, ab. Der Veranstalter Nelson und sein Team haben wirklich keinen Aufwand gescheut, uns in Ecken zu schicken, die vom Pauschaltourismus völlig unbehelligt blieben. Dass ich mein Bike öfter auch für Stunden schieben muss, habe ich vorher nicht geahnt. Auf einmal wird mir auch klar, warum mir an der Startlinie die interessante Schuhauswahl im Peloton ins Auge gestochen ist. Die Sohlen meiner Schuhe sprechen ihre eigene Geschichte. Doch auch wenn uns einige Flüche über die Lippen kommen, wenn wir uns schon auf dem Gipfel wähnten und sich nach der nächsten Kurve weitere Plagen eröffnen – die Ausblicke bleiben unbezahlbar. In dem Moment, als wir eine friedlich grasende Kamelfamilie zwischen den Felsen entdecken, ist die Quälerei sowieso vergessen.

Atlas Mountain Race Giro VR90
Ewige Schiebepassagen stellen das Schuhwerk auf die Probe | Foto: Marc Lehmann / @hhcc_marec

Aber gerade dieser Zustand bringt mich auf den Nullpunkt, zum Reset, wonach viele mühevoll suchen. Für mich liegt er im marokkanischen Schotter. 

Die Strecke fordert uns permanent extrem heraus und lässt nicht für eine Sekunde zu, mit den Gedanken abzuschweifen. Ich will einfach nicht vom Rad fallen, meine Reifen nicht an scharfen Felskanten aufschneiden oder dem Abhang zu nahe kommen. Mein Teamkollege Marc und ich fragen uns immer wieder, was in unseren Köpfen die letzten Stunden zuging. Es bleibt einfach kein Raum mehr für großes nachdenken, wenn man immer im Moment sein muss. Das stete Auf und Ab der rotierenden Beine des Vordermanns auf sich über Stunden ziehenden Gebirgspfaden versetzt in Hypnose. Aber gerade dieser Zustand bringt mich auf den Nullpunkt, zum Reset, wonach viele mühevoll suchen. Für mich liegt er im marokkanischen Schotter. 

Atlas Mountain Race Marokko Bikepacking
Im Hintergrund warten einige der über 20.000 Höhenmeter | Foto: Marc Lehmann / @hhcc_marec

Geteiltes Leid ist halbes Leid

Das Verhältnis von verstreichenden Stunden und gefahrenen Kilometern lässt uns unsere Streckenplanung überdenken. Sieben bis zehn Kilometer in der Stunde machen uns ein bisschen Sorgen, die selbstgesteckten Ziele noch zu erreichen. Wir nehmen uns kleine Zwischenziele ins Visier – der nächste Laden, der nächste Checkpoint, die nächste Übernachtungsmöglichkeit … Bald merken wir, welche Strecken wir dennoch bereits zurückgelegt haben. Unsere Geschwindigkeit ist unterm Strich doch gar nicht schlecht. Wir passieren immer wieder andere Fahrer*innen. Diese Gelegenheiten sind immer gut für einen kurzen Schnack, auch um die Einzelstarter*innen aufzumuntern, die die ganzen Strapazen nicht teilen können. Wir sind froh, als Team uns gegenseitig zu haben. Dumme Sprüche oder, wenn es der Untergrund zulässt, auch ausgedehntere Gespräche lassen manche Stunden schnell verfliegen oder reißen wieder aus einem Tief heraus. Mentale Höhen und Tiefen wechseln genau wie das Streckenprofil. Doch die innere Sturheit gewinnt. Aussteigen ist keine Option und solange sich die Kurbeln drehen, kommen wir dem Ziel näher.

Das harte unnachgiebige Gelände schlägt unsere Körper windelweich. Eine tägliche Kneipenschlägerei hätte vermutlich den gleichen Effekt. Schräglaufende Steinplatten und katzenkopfgroße Steine schreien geradezu nach Paul Turners genialer Erfindung, die Anfang der Neunziger eine Revolution auf dem Mountainbike-Markt anstieß. Was würden wir für eine Federgabel geben! Was die DT-Swiss Carbonlaufräder alles einstecken müssen, tut weh. Aber alles in allem sind wir froh über unser stabiles Material, dass uns, bis auf einen einzigen Reifendefekt, die ganze Strecke nicht im Stich gelassen hat. Nichts hätte uns mehr geärgert, als das Ziel aufgrund eines Materialausfalls nicht erreichen zu können.

Atlas Mountain Race Marokko Bikepacking
Es wird noch ein bisschen dauern, bis der feine Wüstensand aus den letzten Ecken dieses Rades geputzt worden ist | Foto: Nils Laengner

Im Verlauf der Strecke zeigen sich immer wieder die unterschiedlichen Taktiken derjenigen, die uns passieren oder die wir überholen können. Bei einer guten Grundgeschwindigkeit kommt es extrem auf das Schlafbedürfnis an. Jede Stunde länger im Sattel bedeutet einen größeren Vorsprung. Unsere Schlafzeiten rangieren von drei bis acht Stunden und auf den letzten verbleibenden 300 Kilometern lassen wir es darauf ankommen. Das Ziel rückt in greifbare Nähe. Wir stellen unsere Leidensfähigkeit auf die Probe und kommen gut durch den Tag. In der letzten großen Stadt verpflegen wir uns in einer Bar mit allem, was uns in Finger kommt. Wir wollen Pommes! Dass diese scheinbar normalerweise nicht auf der Karte stehen merken wir erst, als die kalten Kartoffelstäbchen vor uns stehen. Das marokkanische Organisationstalent beeindruckt uns immer wieder. Keine Fritten, kein Problem – ab zum Nachbarn und eine Portion für die Gäste klar gemacht. Mit dicken Bäuchen geht es auf in die Nacht. Die folgende lange Asphaltpassage ist trotz der Anstiege eine Wohltat und lässt uns gut vorankommen.

Atlas Mountain Race Marokko Bikepacking
Solange sich die Kurbeln drehen, gibt es Hoffnung | Foto: Marc Lehmann / @hhcc_marec

Gegen 2.30 Uhr ist für uns der Point of no return gekommen. Wir beschließen, die Sache jetzt durchzuziehen bis zum Schluss. Was dann folgt gleicht mental einem Computerspiel, als wir mitten in der Nacht in 5 Augenpaare von Wildschweinen blicken. Die nächsten Level werden nicht einfacher. Wir werden mit ausgewaschenen Flussbetten, Kakteenhecken und Sandpassagen konfrontiert, in denen Fahren unmöglich ist. Aufkommender Nebel und Temperaturen um zwei Grad schicken uns direkt durch eine Apokalypse aus uns verfolgenden Hunden, haarscharf an uns vorbeirasenden Bussen und stinkenden Müllplätzen auf unseren Endgegner zu. Das Orga-Team hat wirklich nichts unversucht gelassen, den letzten Willen zu brechen: die letzten Kilometer zum Ziel müssen wir uns durch losen Sand kämpfen. Bis dahin sind wir bereits über 24 Stunden in Bewegung aber auch diese Challenge lassen wir mit Flüchen hinter uns.

Atlas Mountain Race Marokko Bikepacking
Endlose Schotterpisten führen zu unglaublichen Sonnenuntergängen | Foto: Marc Lehmann / @hhcc_marec

Alles klar, Danke, Ciao – das Rennen ist vorüber.

Endlich sind wir im Ziel und der letzte Stempel wird auf die Brevetkarte gedrückt. Alles klar, Danke, Ciao – das Rennen ist vorüber. Völlig ungläubig, es jetzt geschafft zu haben, tut sich ein großes Loch auf. Das Gefühlschaos lässt sich kaum beschreiben. Wir müssen erstmal etwas vom versäumten Schlaf nachholen.

Vier Stunden und sechs Bier später sind wir wieder auf dem Dampfer und realisieren, was wir geschafft haben. Nach fünf Tagen, 23 Stunden und 45 Minuten konnten wir das Ziel knapp unter unserer Zielsetzung von sechs Tagen erreichen. Mehr als glücklich, die Strapazen gemeistert zu haben, packen wir unsere geschundenen Bikes in die Flugtaschen. Ein sauberes Bett und eine ordentliche Dusche im Hotel in Agadir sind die langersehnte Belohnung.

Alles in allem war das Atlas Mountain Race für Marc und mich ein heftiger Einstieg in die Welt des Ultra Cyclings. Umso dankbarer sind wir, dass wir uns als Einsteiger in diesem Feld beweisen konnten. Fakt ist: Radfahren ist hier nicht alles. Und das ist für mich als Radfahrer die entscheidende Antwort auf die Frage, ob es eine Wiederholung eines solchen Abenteuers geben wird. „Jein“ würde meine Antwort jetzt lauten. Die Dynamik, die ich sonst aus Rennen kenne, fehlt mir etwas. Zum Wandern gehe ich gerne ohne Bike in die Berge. Nichtsdestotrotz entlässt uns Marokko mit einem Berg an Eindrücken und Erfahrungen, über die wir dieser Tage mehr als glücklich sind. Diese Dinge sind nicht selbstverständlich, wenn die eigene Bewegungsfreiheit durch äußere Umstände stark eingeschränkt wird. 

Abschließend nochmal ein dickes Dankeschön an alle Sponsoren, Kollegen, die unseren Punkten auf der Karte gefolgt sind und uns mit motivierenden Nachrichten unterwegs bei Laune gehalten haben – Merci!

Ride safe!

Alex