Eine Ausfahrt mit Freunden
Mal wieder stehe ich an der stark befahrenen Straßenkreuzung und warte seit – Blick zur Uhr – über zehn Minuten auf meine Mitfahrer für die heutige Tour. Insgesamt wollen wir heute zu viert eine lockere Feierabendrunde mit 65 Kilometer Länge machen. Ich habe meiner Frau versprochen, pünktlich zum Abendessen wieder zu Hause zu sein. Das wird nun eng. Der erste Kandidat kommt pünktlich elf Minuten zu spät, er hatte seine Regenjacke vergessen und musste nochmal zurück. Auf meine Bemerkung, dass es die nächsten drei Tage nicht regnen soll, kann er nicht mehr reagieren, denn die anderen beiden Teilnehmer der heutigen Ausfahrt kommen gerade angerollt. Ein bildschönes Rennradpärchen, sie hatten sich noch einen Kaffee gegönnt, weil man das vor der Ausfahrt so macht. OK, also jetzt aber los! Immerhin kommen wir relativ gut aus der Stadt raus, nach fünf Kilometern dann der erste Stopp, es ist doch wärmer als gedacht und zwei der Mitfahrer ziehen aufwendig eine ihrer gefühlt sechs Schichten aus. Auf den nächsten 14 Kilometern kommen wir richtig gut ins Plaudern, dann hat doch tatsächlich einer nen Platten. Ich schreibe meiner Frau eine Nachricht: „Weiß nicht, ob ich es zum Essen schaffe“.
Kurz vor Abfahrt eine eingehende Nachricht: ein augenrollender Emoji. Die Rennradgruppe setzt sich wieder in Bewegung. Es entwickelt sich eine ausgelassene Stimmung. Außer am Berg, da bleibt immer einer zurück, auf den die anderen oben dann warten müssen. Bei Kilometer 50 schlägt doch dann tatsächlich der Streckenverantwortliche vor, noch in ein Café einzukehren. Er habe die Strecke extra so gelegt. Wie sich bei der Bestellung herausstellt, bin ich der einzige, der das nötige Geld dabei hat. Das Pärchen fängt an sich zu streiten, wer jetzt genau das Portemonnaie vergessen hat. Ich tippe in mein Handy: „Oh man, ich vermute, du musst die Kinder ins Bett bringen“. Beim Bezahlen eine eingehende Nachricht: ein wütender Smiley.
Darum fahr ich allein!
Nach so einer Ausfahrt weiß ich, dass ich die nächsten Male garantiert allein meine Runden drehe. Die Vorteile liegen doch ganz deutlich auf der Hand: Ich muss auf niemanden warten, kann die Fahrt optimal in meinen Tagesablauf einplanen und mich ganz auf das Fahrradfahren konzentrieren. Wenn man ehrlich ist, dann lässt sich das Biken doch mit dem Essen vergleichen: Am Ende is(s)t doch jeder für sich allein. Ganz allein muss ich keine peinliche Stille überbrücken. Der unangenehme Moment, wenn das Gespräch ins Leere läuft, die Tour oder das Essen aber noch lange nicht vorbei sind, den gibt es solo nicht.
Dazu kommt natürlich das meditative Ganze, das wir am Radfahren so lieben. Wenn wir eins werden mit dem Jetzt und den Flow spüren. Wir tauchen dann ab in eine Welt fernab der Realität und des Alltags. Wenn dann eine Stimme aus dem Hintergrund ruft: „Hey, halt mal an, ich muss mal pinkeln“ ist man schneller zurück in der Realität als einem lieb ist. Im Gegensatz zu Fußball oder Rugby ist Radfahren ja eine Sportart, die darauf ausgelegt ist, einzeln durchgeführt zu werden. Im Gegensatz zu Tennis ist das auch ohne weiteres möglich.
Das Allerschlimmste sind natürlich große Gruppen, wild gewordene Horden voll mit Adrenalin und Blut in den Augen, die jedes, wirklich jedes Ortsschild dazu nutzen, um herauszubekommen, wer nun eigentlich der Stärkste ist. Es wird gerotzt, gerülpst und die teuersten Carbonfelgen müssen zum Einsatz kommen. Die Gruppe fährt natürlich auch nie eine angemessene Geschwindigkeit, entweder viel zu schnell (heute sollte doch Grundlage sein, ganz easy!) oder viel zu langsam (ich warte oben nicht schon wieder fünf Minuten auf den Letzten!). Der eigene Rhythmus ist doch immer noch der beste. Apropos Rhythmus: Musik und Podcasts hören geht natürlich auch nur alleine und kann manchmal noch den extra Kick geben. Dabei gilt es aber zu beachten, dass man auf jeden Fall mindestens ein Ohr für den Verkehr hat. Safety first, Entertainment second!
Aber dann fehlt doch was …
Allein sein heißt aber manchmal auch, sich einsam zu fühlen. Natürlich haben wir gern das Bild des einsamen Kriegers vor Augen, aber der Mensch ist vor allem ein Rudeltier und Gesellschaft tut ihm gut. So ist es nicht selten der Fall, dass ich mich auf manchen Ausfahrten langweile. Kilometer ziehen sich wie die klebrigen Riegel, die ich esse, weil ich allein keinen Kaffeestopp machen möchte. Und nicht zu vergessen: die vielen Eindrücke, die man immer nur allein erleben kann, ohne sie mit jemandem zu teilen. Besonders nach langen Touren habe ich schon oft versucht, das Geschehene meinem Gegenüber zu verdeutlichen und eindrucksvoll zu schildern, wie ich mich heldenhaft hochgekämpft, den peitschenden Regen nur knapp überlebt und den massiven Gegenwind bezwungen habe. Keine Chance, bei Abenteuern gilt das gleiche wie bei der Abschlussfahrt: Man muss dabei gewesen sein.
Allein mit sich und dem inneren Schweinehund fällt es allerdings häufig sehr schwer, die Füße von der Couch hochzubekommen. Oftmals siegt er dann doch und wir fühlen uns am Ende des Tages schlecht. Auch hier hilft mir eine feste Verabredung zum Training immer weiter. Egal ob es die wöchentliche Feierabendrunde ist oder das geplante Intervalltraining, vor dem ich mich schon seit Tagen zu Tode fürchte: In Gesellschaft klappt alles besser. Langwierige Grundlagen-Ausdauer-Trainingseinheiten können mit einem guten Gespräch verfliegen und die Kilometer sammeln sich wie von selbst. Besonders aber, wenn es darum geht, mal wieder die Laktatschwelle durch All-Out-Sprints eine Stufe raufzuwuchten, können ein oder mehrere Trainingspartner helfen, auch den letzten Krafteinsatz zu aktivieren.
Womit wir bei einem (lebens)wichtigen Punkt gelandet sind: dem Helfen. Es reicht eine vergessene Luftpumpe, ein übersehener Baum oder dass man selbst „übersehen“ wurde und schlagartig wird einem klar, wie wichtig es ist, nicht allein zu sein. Ich weiß genau, wie es sich anfühlt, allein auf der Straße zu liegen, in einer fremden Stadt oder einem fremden Land. Eine solche Hilflosigkeit und Angst waren mir vorher vollkommen unbekannt. Und wenn dann da jemand ist, dem du vertraust und der dir einfach nur durch die bloße Anwesenheit hilft, dann sind alle vorherigen Unannehmlichkeiten, Wartereien und Augenroller ganz vergessen.
Radfahren, egal ob im Bikepark, auf Gravelpfaden oder glatten Asphaltpisten, ist eine reine Individualsportart mit ihren Vor- und Nachteilen. Wie bei vielen Dingen gilt aber auch hier, dass „die Glocke des Glückes nur dann erklingt, wenn man die Hälften geschickt zusammen bringt“. Manchmal will man einfach allein sein und sein Ding durchziehen. Aber manchmal glaubt man das auch nur, und plötzlich erfährt man gemeinsam so viel mehr, als es allein möglich gewesen wäre.